Gustav Meyrink. Der Golem
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äÁÔÁ ÓÏÚÄÁÎÉÅ ÐÒÏÉÚ×ÅÄÅÎÉÑ: 1915 Ç.
ðÅÞÁÔÎÙÊ ÉÓÔÏÞÎÉË: Gustav Meyrink. Der Golem, Leipzig, 1916
OCR, Spellcheck: Serge Winitzki
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Leipzig
Kurt Wolff Verlag
1916
Vierter Abdruck. Dezember 1915
Copyright 1915 by Kurt Wolff Verlag Leipzig
Kapitelverzeichnis
Schlaf
Tag
I
Prag
Punsch
Nacht
Wach
Schnee
Spuk
Licht
Not
Angst
Trieb
Weib
List
Qual
Mai
Mond
Frei
Schluñ
Schlaf
Das Mondlicht fÄllt auf das Fuñende meines Bettes und liegt dort wie
ein groñer, heller, flacher Stein.
Wenn der Vollmond in seiner Gestalt zu schrumpfen beginnt und seine
rechte Seite fÄngt an zu verfallen, - wie ein Gesicht, das dem Alter
entgegengeht, zuerst an einer Wange Falten zeigt und abmagert, - dann
bemÄchtigt sich meiner um solche Zeit des Nachts eine trØbe, qualvolle
Unruhe.
Ich schlafe nicht und wache nicht, und im Halbtraum vermischt sich in
meiner Seele Erlebtes mit Gelesenem und GehÃrtem, wie StrÃme von
verschiedener Farbe und Klarheit zusammenflieñen.
Ich hatte Øber das Leben des Buddha Gotama gelesen, ehe ich mich
niedergelegt, und in tausend Spielarten zog der Satz immer wieder von vorne
beginnend durch meinen Sinn:
"Eine KrÄhe flog zu einem Stein hin, der wie ein StØck Fett aussah, und
dachte: vielleicht ist hier etwas Wohlschmeckendes. Da nun die KrÄhe dort
nichts Wohlschmeckendes fand, flog sie fort. Wie die KrÄhe, die sich dem
Stein genÄhert, so verlassen wir - wir, die Versucher, - den Asketen Gotama,
da wir den Gefallen an ihm verloren haben."
Und das Bild von dem Stein, der aussah wie ein StØck Fett, wÄchst ins
Ungeheuerliche in meinem Hirn:
Ich schreite durch ein ausgetrocknetes Fluñbett und hebe glatte Kiesel
auf.
Graublaue mit eingesprengtem glitzerndem Staub, Øber die ich nachgrØble
und nachgrØble und doch mit ihnen nichts anzufangen weiñ, - dann schwarze
mit schwefelgelben Flecken wie die steingewordenen Versuche eines Kindes,
plumpe, gesprenkelte Molche nachzubilden.
Und ich will sie weit von mir werfen, diese Kiesel, doch immer fallen
sie mir aus der Hand, und ich kann sie aus dem Bereich meiner Augen nicht
bannen.
Alle jene Steine, die je in meinem Leben eine Rolle gespielt, tauchen
auf rings um mich her.
Manche quÄlen sich schwerfÄllig ab, sich aus dem Sande ans Licht
emporzuarbeiten - wie groñe schieferfarbene Taschenkrebse, wenn die Flut
zurØckkommt, - und als wollten sie alles daransetzen, meine Blicke auf sich
zu lenken, um mir Dinge von unendlicher Wichtigkeit zu sagen.
Andere - erschÃpft - fallen kraftlos zurØck in ihre LÃcher und geben es
auf, je zu Worte zu kommen.
Zuweilen fahre ich empor aus dem DÄmmer dieser halben TrÄume und sehe
fØr einen Augenblick wiederum den Mondschein auf dem gebauschten Fuñende
meiner Decke liegen wie einen groñen, hellen, flachen Stein, um blind von
neuem hinter meinem schwindenden Bewuñtsein herzutappen, ruhelos nach jenem
Stein suchend, der mich quÄlt - der irgendwo verborgen im Schutte meiner
Erinnerung liegen muñ und aussieht wie ein StØck Fett.
Eine RegenrÃhre muñ einst neben ihm auf der Erde gemØndet haben, male
ich mir aus - stumpfwinklig abgebogen, die RÄnder von Rost zerfressen, - und
trotzig will ich mir im Geiste ein solches Bild erzwingen, um meine
aufgescheuchten Gedanken zu belØgen und in Schlaf zu lullen.
Es gelingt mir nicht.
Immer wieder und immer wieder mit alberner Beharrlichkeit behauptet
eine eigensinnige Stimme in meinem Innern - unermØdlich wie ein
Fensterladen, den der Wind in regelmÄñigen ZwischenrÄumen an die Mauer
schlagen lÄñt: es sei das ganz anders, das sei gar nicht der Stein, der wie
Fett aussehe.
Und es ist von der Stimme nicht loszukommen.
Wenn ich hundertmal einwende, alles das sei doch ganz nebensÄchlich, so
schweigt sie wohl eine kleine Weile, wacht aber dann unvermerkt wieder auf
und beginnt hartnÄckig von neuem: gut, gut, schon recht, es ist aber doch
nicht der Stein, der wie ein StØck Fett aussieht. -
Langsam beginnt sich meiner ein unertrÄgliches GefØhl von Hilflosigkeit
zu bemÄchtigen.
Wie es weiter gekommen ist, weiñ ich nicht. Habe ich freiwillig jeden
Widerstand aufgegeben, oder haben sie mich ØberwÄltigt und geknebelt, meine
Gedanken?
Ich weiñ nur, mein KÃrper liegt schlafend im Bett, und meine Sinne sind
losgetrennt und nicht mehr an ihn gebunden. -
Wer ist jetzt "ich", will ich plÃtzlich fragen; da besinne ich mich,
dañ ich doch kein Organ mehr besitze, mit dem ich Fragen stellen kÃnnte;
dann fØrchte ich, die dumme Stimme werde wieder aufwachen und von neuem das
endlose VerhÃr Øber den Stein und das Fett beginnen.
Und so wende ich mich ab.
Tag
Da stand ich plÃtzlich in einem dØsteren Hofe und sah durch einen
rÃtlichen Torbogen gegenØber - jenseits der engen, schmutzigen Strañe -
einen jØdischen TrÃdler an einem GewÃlbe lehnen, das an den MauerrÄndern mit
altem EisengerØmpel, zerbrochenen Werkzeugen, verrosteten SteigbØgeln und
Schlittschuhen und vielerlei anderen abgestorbenen Sachen behangen war.
Und dieses Bild trug das quÄlend EintÃnige an sich, das alle jene
EindrØcke kennzeichnet, die tagtÄglich so und so oft wie Hausierer die
Schwelle unserer Wahrnehmung Øberschreiten, und rief in mir weder Neugierde
noch øberraschung hervor.
Ich wurde mir bewuñt, dañ ich schon seit langer Zeit in dieser Umgebung
zu Hause war.
Auch diese Empfindung hinterlieñ mir trotz ihres Gegensatzes zu dem,
was ich doch vor kurzem noch wahrgenommen und wie ich hierher gelangt,
keinerlei tieferen Eindruck. - -
Ich muñ einmal von einem sonderbaren Vergleich zwischen einem Stein und
einem StØck Fett gehÃrt oder gelesen haben, drÄngte sich mir plÃtzlich der
Einfall auf, als ich die ausgetretenen Stufen zu meiner Kammer emporstieg
und mir Øber das speckige Aussehen der Steinschwellen flØchtige Gedanken
machte.
Da hÃrte ich Schritte die oberen Treppen Øber mir vorauslaufen, und als
ich zu meiner TØr kam, sah ich, dañ es die vierzehnjÄhrige, rothaarige
Rosina des TrÃdlers Aaron Wassertrum gewesen war.
Ich muñte dicht an ihr vorbei, und sie stand mit dem RØcken gegen das
StiegengelÄnder und bog sich lØstern zurØck.
Ihre schmutzigen HÄnde hatte sie um die Eisenstange gelegt, - zum Halt
- und ich sah, wie ihre nackten Unterarme bleich aus dem trØben Halbdunkel
hervorleuchteten.
Ich wich ihren Blicken aus.
Mich ekelte vor ihrem zudringlichen LÄcheln und diesem wÄchsernen
Schaukelpferdgesicht.
Sie muñ schwammiges, weiñes Fleisch haben wie der Axolotl, den ich
vorhin im SalamanderkÄfig bei dem VogelhÄndler gesehen habe, fØhlte ich.
Die Wimpern Rothaariger sind mir widerwÄrtig wie die eines Kaninchens.
Und ich sperrte auf und schlug rasch die TØr hinter mir zu. - -
Von meinem Fenster aus konnte ich den TrÃdler Aaron Wassertrum vor
seinem GewÃlbe stehen sehen.
Er lehnte am Eingang der dunklen WÃlbung und zwickte mit einer
Beiñzange an seinen FingernÄgeln herum.
War die rothaarige Rosina seine Tochter oder seine Nichte? Er hatte
keine ähnlichkeit mit ihr.
Unter den Judengesichtern, die ich Tag fØr Tag in der Hahnpañgasse
auftauchen sehe, kann ich deutlich verschiedene StÄmme unterscheiden, die
sich so wenig durch die nahe Verwandtschaft der einzelnen Individuen
verwischen lassen, wie sich Ãl und Wasser vermengen wird. Da darf man nicht
sagen: die dort sind BrØder oder Vater und Sohn.
Der gehÃrt zu jenem Stamm und dieser zu einem andern, das ist alles,
was sich aus den GesichtszØgen lesen lÄñt.
Was bewiese es auch, wenn selbst Rosina dem TrÃdler Ähnlich sÄhe!
Diese StÄmme hegen einen heimlichen Ekel und Abscheu voreinander, der
sogar die Schranken der engen Blutsverwandtschaft durchbricht, - aber sie
verstehen ihn geheimzuhalten vor der Auñenwelt, wie man ein gefÄhrliches
Geheimnis hØtet.
Kein einziges lÄñt ihn durchblicken, und in dieser øbereinstimmung
gleichen sie hañerfØllten Blinden, die sich an ein schmutzgetrÄnktes Seil
klammern: der eine mit beiden FÄusten, ein anderer nur widerwillig mit einem
Finger, alle aber von aberglÄubischer Furcht besessen, dañ sie dem Untergang
verfallen mØssen, sobald sie den gemeinsamen Halt aufgeben und sich von den
Øbrigen trennen.
Rosina ist von jenem Stamme, dessen rothaariger Typus noch abstoñender
ist, als der der andern. Dessen MÄnner engbrØstig sind und lange HØhnerhÄlse
haben mit vorstehendem Adamsapfel.
Alles scheint an ihnen sommersprossig, und ihr ganzes Leben leiden sie
unter brØnstigen Qualen, diese MÄnner, - und kÄmpfen heimlich gegen ihre
GelØste einen ununterbrochenen, erfolglosen Kampf, von immerwÄhrender
widerlicher Angst um ihre Gesundheit gefoltert.
Ich war mir nicht klar, wieso ich Rosina Øberhaupt in
verwandtschaftliche Beziehungen mit dem TrÃdler Wassertrum bringen konnte.
Nie habe ich sie doch in der NÄhe des Alten gesehen oder bemerkt, dañ
sie jemals einander etwas zugerufen hÄtten.
Auch war sie fast immer in unserem Hofe oder drØckte sich in den
dunklen Winkeln und GÄngen unseres Hauses umher.
Sicherlich halten sie alle meine Mitbewohner fØr eine nahe Verwandte
oder zumindest Schutzbefohlene des TrÃdlers, und doch bin ich Øberzeugt, dañ
kein einziger einen Grund fØr solche Vermutungen anzugeben vermÃchte.
Ich wollte meine Gedanken von Rosina losreiñen und sah von dem offenen
Fenster meiner Stube hinab auf die Hahnpañgasse.
Als habe Aaron Wassertrum meinen Blick gefØhlt, wandte er plÃtzlich
sein Gesicht zu mir empor.
Sein starres, grÄñliches Gesicht mit den runden Fischaugen und der
klaffenden Oberlippe, die von einer Hasenscharte gespalten ist.
Wie eine menschliche Spinne kam er mir vor, die die feinste BerØhrung
ihres Netzes spØrt, so teilnahmslos sie sich auch stellt.
Und wovon er nur leben mag? Was denkt er, und was ist sein Vorhaben?
Ich wuñte es nicht.
An den MauerrÄndern seines GewÃlbes hÄngen unverÄndert Tag fØr Tag,
jahraus jahrein dieselben toten wertlosen Dinge.
Mit geschlossenen Augen hÄtte ich sie hinzeichnen kÃnnen: hier die
verbogene Blechtrompete ohne Klappen, das vergilbte Bild auf Papier gemalt,
mit den so sonderbar zusammengestellten Soldaten. Dann eine Girlande
verrosteter Sporen an einem schimmligen Lederriemen und anderes halb
vermodertes GerØmpel.
Und vorne auf dem Boden, dicht nebeneinander geschichtet, so dañ
niemand die Schwelle des GewÃlbes Øberschreiten kann, eine Reihe runder
eiserner Herdplatten. -
Alle diese Dinge nahmen an Zahl nie zu, nie ab, und blieb wirklich hier
und da einmal ein VorØbergehender stehen und fragte nach dem Preis des einen
oder andern, geriet der TrÃdler in heftige Erregung.
In grauenerregender Weise zog er dann seine Lippen mit der Hasenscharte
empor und sprudelte gereizt irgend etwas UnverstÄndliches in einem
gurgelnden, stolpernden Bañ hervor, dañ dem KÄufer die Lust weiter zu fragen
verging und er abgeschreckt seinen Weg fortsetzte.
Der Blick des Aaron Wassertrum war blitzschnell von meinen Augen
abgeglitten und ruhte jetzt mit gespanntem Interesse an den kahlen Mauern,
die vom Nebenhause an mein Fenster stoñen.
Was konnte er dort nur sehen?
Das Haus steht doch mit dem RØcken gegen die Hahnpañgasse, und seine
Fenster blicken in den Hof! Nur eines ist in die Strañe gekehrt.
ZufÄllig schienen die RÄume, die nebenan in derselben StockhÃhe wie die
meinigen liegen - ich glaube, sie gehÃren zu einem winkligen Atelier - in
diesem Moment betreten worden zu sein, denn durch die Mauern hÃrte ich
plÃtzlich eine mÄnnliche und eine weibliche Stimme miteinander reden.
UnmÃglich konnte das aber der TrÃdler von unten aus wahrgenommen haben!
- -
Vor meiner TØr bewegte sich jemand, und ich erriet: es ist immer noch
Rosina, die drauñen im Dunkeln steht in begehrlichem Warten, dañ ich sie
doch vielleicht zu mir hereinrufen wolle.
Und unten, ein halbes Stockwerk tiefer, lauert der blatternarbige,
halbwØchsige Loisa auf den Stiegen mit angehaltenem Atem, ob ich die TØr
Ãffnen werde, und ich spØre fÃrmlich den Hauch seines Hasses und seine
schÄumende Eifersucht bis herauf zu mir.
Er fØrchtet sich nÄher zu kommen und von Rosina bemerkt zu werden. Er
weiñ sich von ihr abhÄngig wie ein hungriger Wolf von seinem WÄrter und
mÃchte doch am liebsten aufspringen und besinnungslos seiner Wut die ZØgel
schieñen lassen! - - -
Ich setzte mich an meinen Arbeitstisch und suchte meine Pinzetten und
Stichel hervor.
Aber ich konnte nichts fertigbringen und meine Hand war nicht ruhig
genug, die feinen japanischen Gravierungen auszubessern.
Das trØbe, dØstere Leben, das an diesem Hause hÄngt, lÄñt mein GemØt
nicht stillwerden, und immer tauchen alte Bilder in mir auf.
Loisa und sein Zwillingsbruder Jaromir sind wohl kaum ein Jahr Älter
als Rosina.
An ihren Vater, der HostienbÄcker gewesen, konnte ich mich kaum mehr
erinnern, und jetzt sorgt fØr sie, glaube ich, ein altes Weib.
Ich wuñte nur nicht, welche es war unter den vielen, die versteckt im
Hause wohnen wie KrÃten in ihrem Schlupfwinkel.
Sie sorgt fØr die beiden Jungen, das heiñt: sie gewÄhrt ihnen
Unterkunft; dafØr mØssen sie ihr abliefern, was sie gelegentlich stehlen
oder erbetteln. -
Ob sie ihnen wohl auch zu essen gibt? Ich konnte es mir nicht denken,
denn erst spÄt abends kommt die Alte heim.
LeichenwÄscherin soll sie sein.
Loisa, Jaromir und Rosina sah ich, als sie noch Kinder waren, oft
harmlos im Hof zu dritt spielen.
Die Zeit aber ist lang vorbei.
Den ganzen Tag ist Loisa jetzt hinter dem rothaarigen JudenmÄdel her.
Zuweilen sucht er sie lange umsonst, und wenn er sie nirgends finden
kann, dann schleicht er sich vor meine TØr und wartet mit verzerrtem
Gesicht, dañ sie heimlich hierher komme.
Da sehe ich ihn, wenn ich bei meiner Arbeit sitze, im Geiste drauñen in
dem winkligen Gange lauern, den Kopf mit dem ausgemergelten Genick horchend
vorgebeugt.
Manchmal bricht dann durch die Stille plÃtzlich ein wilder LÄrm.
Jaromir, der taubstumm ist, und dessen ganzes Denken eine
ununterbrochene wahnsinnige Gier nach Rosina erfØllt, irrt wie ein wildes
Tier im Hause umher, und sein unartikuliertes heulendes Gebell, das er, vor
Eifersucht und Argwohn halb von Sinnen, ausstÃñt, klingt so schauerlich, dañ
einem das Blut in den Adern stockt.
Er sucht die beiden, die er stets beieinander vermutet - irgendwo in
einem der tausend schmutzigen Schlupfwinkel versteckt - in blinder Raserei,
immer von dem Gedanken gepeitscht, seinem Bruder auf den Fersen sein zu
mØssen, dañ nichts mit Rosina vorgehe, von dem er nicht wisse.
Und gerade diese unaufhÃrliche Qual des KrØppels ist, ahnte ich, das
Reizmittel, das Rosina antreibt, sich stets von neuem mit dem andern
einzulassen.
Wird ihre Neigung oder Bereitwilligkeit schwÄcher, so ersinnt Loisa
immer wieder besondere Scheuñlichkeiten, um Rosinas Gier von neuem zu
entfachen.
Da lassen sie sich scheinbar oder wirklich von dem Taubstummen ertappen
und locken den Rasenden heimtØckisch hinter sich her in dunkle GÄnge, wo sie
aus rostigen Fañreifen, die in die HÃhe schnellen, wenn man auf sie tritt,
und eisernen Rechen - mit den Spitzen nach oben gekehrt - bÃsartige Fallen
errichtet haben, in die er stØrzen muñ und sich blutig fÄllt.
Von Zeit zu Zeit denkt sich Rosina, um die Folter aufs Äuñerste
anzuspannen, auf eigene Faust etwas HÃllisches aus.
Dann Ändert sie mit einem Schlage ihr Benehmen zu Jaromir und tut, als
fÄnde sie plÃtzlich Gefallen an ihm.
Mit ihrer ewig lÄchelnden Miene teilt sie dem KrØppel hastig Dinge mit,
die ihn in eine fast irrsinnige Erregung versetzen, und sie hat sich dazu
eine geheimnisvoll scheinende, nur halbverstÄndliche Zeichensprache
ersonnen, die den Taubstummen rettungslos in ein unentwirrbares Netz von
Ungewiñheit und verzehrenden Hoffnungen verstricken muñ. -
Einmal sah ich ihn im Hofe vor ihr stehen, und sie sprach mit so
heftigen Lippenbewegungen und Gestikulationen auf ihn ein, dañ ich glaubte,
jeden Augenblick wØrde er in wilder Aufregung zusammenbrechen.
Der Schweiñ lief ihm Øbers Gesicht vor Øbermenschlicher Anstrengung,
den Sinn der absichtlich so unklaren, hastigen Mitteilungen zu erfassen.
Und den ganzen folgenden Tag lauerte er dann fiebernd in Erwartung auf
den finsteren Stiegen eines halb versunkenen Hauses, das in der Fortsetzung
der engen, schmutzigen Hahnpañgasse liegt, - bis er die Zeit versÄumt hatte,
sich an den Ecken ein paar Kreuzer zu erbetteln.
Und als er spÄt abends halbtot vor Hunger und Aufregung heim wollte,
hatte ihn die Pflegemutter lÄngst ausgesperrt. - - -
Ein frÃhliches Frauenlachen drang aus dem anstoñenden Atelier durch die
Mauern herØber zu mir.
Ein Lachen! - In diesen HÄusern ein frÃhliches Lachen? Im ganzen Getto
wohnt niemand, der frÃhlich lachen kÃnnte.
Da fiel mir ein, dañ mir vor einigen Tagen der alte Marionettenspieler
Zwakh anvertraute, ein junger, vornehmer Herr hÄtte ihm das Atelier teuer
abgemietet - offenbar, um mit der ErwÄhlten seines Herzens unbelauscht
zusammenkommen zu kÃnnen.
Nach und nach, jede Nacht, mØñten nun, damit niemand im Hause etwas
merke, die kostbaren MÃbel des neuen Mieters heimlich StØck fØr StØck
hinaufgeschafft werden.
Der gutmØtige Alte hatte sich vor VergnØgen die HÄnde gerieben, als er
es mir erzÄhlte, und sich kindlich gefreut, wie er alles so geschickt
angefangen habe: keiner der Mitbewohner kÃnne auch nur eine Ahnung von dem
romantischen Liebespaar haben.
Und von drei HÄusern aus sei es mÃglich, unauffÄllig in das Atelier zu
gelangen. - Sogar durch eine FalltØre gÄbe es einen Zugang!
Ja, wenn man die eiserne TØr des Bodenraumes aufklinke, - und das sei
von drØben aus sehr leicht, - kÃnne man an meiner Kammer, vorbei zu den
Stiegen unseres Hauses gelangen und diese als Ausgang benØtzen ...
Wieder klingt das frÃhliche Lachen herØber und lÄñt in mir die
undeutliche Erinnerung an eine luxuriÃse Wohnung und an eine adlige Familie
auftauchen, zu der ich oft gerufen wurde, um an kostbaren AltertØmern kleine
Ausbesserungen vorzunehmen. -
PlÃtzlich hÃre ich nebenan einen gellenden Schrei. Ich horche
erschreckt.
Die eiserne BodentØr klirrt heftig, und im nÄchsten Augenblick stØrzt
eine Dame in mein Zimmer.
Mit aufgelÃstem Haar, weiñ wie die Wand, einen goldenen Brokatstoff
Øber die bloñen Schultern geworfen.
"Meister Pernath, verbergen Sie mich, - um Gottes Christi willen! -
fragen Sie nicht, verbergen Sie mich hier!"
Ehe ich noch antworten konnte, wurde meine TØr abermals aufgerissen und
sofort wieder zugeschlagen. -
Eine Sekunde lang hatte das Gesicht des TrÃdlers Aaron Wassertrum wie
eine scheuñliche Maske hereingegrinst. -
Ein runder, leuchtender Fleck taucht vor mir auf, und im Schein des
Mondlichtes erkenne ich wiederum das Fuñende meines Bettes. Noch liegt der
Schlaf auf mir wie ein schwerer, wolliger Mantel und der Name Pernath steht
in goldenen Buchstaben vor meiner Erinnerung.
Wo nur habe ich diesen Namen gelesen? - Athanasius Pernath?
Ich glaube, ich glaube vor langer, langer Zeit habe ich einmal irgendwo
meinen Hut verwechselt, und ich wunderte mich damals, dañ er mir so genau
passe, wo ich doch eine hÃchst eigentØmliche Kopfform habe.
Und ich sah in den fremden Hut hinein - damals und - - ja, ja, dort
hatte es gestanden in goldenen Papierbuchstaben auf dem weiñen Futter:
ATHANASIUS PERNATH.
Ich hatte mich vor dem Hut gescheut und gefØrchtet, ich wuñte nicht
warum.
Da fÄhrt plÃtzlich die Stimme, die ich vergessen hatte, und die immer
von mir wissen wollte, wo der Stein ist, der wie Fett ausgesehen habe, auf
mich los, gleich einem Pfeil.
Schnell male ich mir das scharfe, sØñlich grinsende Profil der roten
Rosina aus, und es gelingt mir auf diese Weise, dem Pfeil auszuweichen, der
sich sogleich in der Finsternis verliert.
Ja, das Gesicht der Rosina! Das ist doch noch stÄrker als die
stumpfsinnige plappernde Stimme; und gar, wo ich jetzt gleich wieder in
meinem Zimmer in der Hahnpañgasse geborgen sein werde, kann ich ganz ruhig
sein.
I
Wenn ich mich nicht getÄuscht habe in der Empfindung, dañ jemand in
einem gewissen, gleichbleibenden Abstand hinter mir die Treppe heraufkommt,
in der Absicht, mich zu besuchen, so muñ er jetzt ungefÄhr auf dem letzten
Stiegenabsatz stehen.
Jetzt biegt er um die Ecke, wo der Archivar Schemajah Hillel seine
Wohnung hat, und kommt von den ausgetretenen Steinfliesen auf den Flur des
oberen Stockwerkes, der mit roten Ziegeln ausgelegt ist.
Nun tastet er sich an der Wand entlang, und jetzt, gerade jetzt, muñ
er, mØhsam im Finstern buchstabierend, meinen Namen auf dem TØrschild lesen.
Und ich stellte mich aufrecht in die Mitte des Zimmers und blickte zum
Eingang.
Da Ãffnete sich die TØre, und er trat ein.
Nur wenige Schritte machte er auf mich zu und nahm weder den Hut ab,
noch sagte er ein Wort der BegrØñung.
So benimmt er sich, wenn er zu Hause ist, fØhlte ich, und ich fand es
ganz selbstverstÄndlich, dañ er so und nicht anders handelte.
Er griff in die Tasche und nahm ein Buch heraus.
Dann blÄtterte er lange drin herum.
Der Umschlag des Buches war aus Metall, und die Vertiefungen in Form
von Rosetten und Siegeln waren mit Farbe und kleinen Steinen ausgefØllt.
Endlich hatte er die Stelle gefunden, die er suchte, und deutete
darauf.
Das Kapitel hieñ "Ibbur", "die SeelenschwÄngerung", entzifferte ich.
Das groñe, in Gold und Rot ausgefØhrte Initial "I" nahm fast die HÄlfte
der ganzen Seite ein, die ich unwillkØrlich Øberflog, und war am Rande
verletzt.
Ich sollte es ausbessern.
Das Initial war nicht auf das Pergament geklebt, wie ich es bisher in
alten BØchern gesehen, schien vielmehr aus zwei Platten dØnnen Goldes zu
bestehen, die im Mittelpunkte zusammengelÃtet waren und mit den Enden um die
RÄnder des Pergaments griffen.
Also muñte, wo der Buchstabe stand, ein Loch in das Blatt geschnitten
sein?
Wenn das der Fall war, muñte auf der nÄchsten Seite das "I" verkehrt
stehen?
Ich blÄtterte um und fand meine Annahme bestÄtigt.
UnwillkØrlich las ich auch diese Seite durch und die gegenØberliegende.
Und ich las weiter und weiter.
Das Buch sprach zu mir, wie der Traum spricht, klarer nur und viel
deutlicher. Und es rØhrte mein Herz an wie eine Frage.
Worte strÃmten aus einem unsichtbaren Munde, wurden lebendig und kamen
auf mich zu. Sie drehten sich und wandten sich vor mir wie buntgekleidete
Sklavinnen, sanken dann in den Boden oder verschwanden wie schillernder
Dunst in der Luft und gaben der nÄchsten Raum. Jede hoffte eine kleine
Weile, dañ ich sie erwÄhlen wØrde und auf den Anblick der Kommenden
verzichten.
Manche waren unter ihnen, die gingen prunkend einher wie Pfauen, in
schimmernden GewÄndern, und ihre Schritte waren langsam und gemessen.
Manche wie KÃniginnen, doch gealtert und verlebt, die Augenlider
gefÄrbt, - mit dirnenhaftem Zug um den Mund und die Runzeln mit hÄñlicher
Schminke verdeckt.
Ich sah an ihnen vorbei und nach den kommenden, und mein Blick glitt
Øber lange ZØge grauer Gestalten mit Gesichtern, so gewÃhnlich und
ausdrucksarm, dañ es unmÃglich schien, sie dem GedÄchtnis einzuprÄgen.
Dann brachten sie ein Weib geschleppt, das war splitternackt und
riesenhaft wie ein Erzkoloñ.
Eine Sekunde blieb das Weib vor mir stehen und beugte sich nieder zu
mir.
Ihre Wimpern waren so lang wie mein ganzer KÃrper, und sie deutete
stumm auf den Puls ihrer linken Hand.
Der schlug wie ein Erdbeben, und ich fØhlte, es war das Leben einer
ganzen Welt in ihr.
Aus der Ferne raste ein Korybantenzug heran.
Ein Mann und ein Weib umschlangen sich. Ich sah sie von weitem kommen,
und immer nÄher brauste der Zug.
Jetzt hÃrte ich den hallenden Gesang der VerzØckten dicht vor mir, und
meine Augen suchten das verschlungene Paar.
Das aber hatte sich verwandelt in eine einzige Gestalt und sañ, halb
mÄnnlich, halb weiblich, - ein Hermaphrodit - auf einem Throne von
Perlmutter.
Und die Krone des Hermaphroditen endete in einem Brett aus rotem Holz;
darein hatte der Wurm der ZerstÃrung geheimnisvolle Runen genagt.
In einer Staubwolke kam eilig hinterdreingetrappelt eine Herde kleiner,
blinder Schafe: die Futtertiere, die der gigantische Zwitter in seinem
Gefolge fØhrte, seine Korybantenschar am Leben zu erhalten.
Zuweilen waren unter den Gestalten, die aus dem unsichtbaren Munde
strÃmten, etliche, die kamen aus GrÄbern, - TØcher vor dem Gesicht.
Und blieben sie vor mir stehen, lieñen sie plÃtzlich ihre HØllen fallen
und starrten mit Raubtieraugen hungrig auf mein Herz, dañ ein eisiger
Schreck mir ins Hirn fuhr und sich mein Blut zurØckstaute wie ein Strom, in
den FelsblÃcke vom Himmel herniedergefallen sind - plÃtzlich und mitten in
sein Bette. -
Eine Frau schwebte an mir vorbei. Ich sah ihr Antlitz nicht, sie wandte
es ab, und sie trug einen Mantel aus flieñenden TrÄnen. -
MaskenzØge tanzten vorØber, lachten und kØmmerten sich nicht um mich.
Nur ein Pierrot sieht sich nachdenklich um nach mir und kehrt zurØck.
Pflanzt sich vor mich hin und blickt in mein Gesicht hinein, als sei es ein
Spiegel.
Er schneidet so seltsame Grimassen, hebt und bewegt seine Arme, bald
zÃgernd, bald blitzschnell, dañ sich meiner ein gespenstiger Trieb
bemÄchtigt ihn nachzuahmen, mit den Augen zu zwinkern, mit den Achseln zu
zucken und die Mundwinkel zu verziehen.
Da stoñen ihn ungeduldig nachdrÄngende Gestalten zur Seite, die alle
vor meine Blicke wollen.
Doch keines der Wesen hat Bestand.
Gleitende Perlen sind sie, auf eine Seidenschnur gereiht, die einzelnen
TÃne nur einer Melodie, die dem unsichtbaren Mund entstrÃmen.
Das war kein Buch mehr, das zu mir sprach. Das war eine Stimme. Eine
Stimme, die etwas von mir wollte, was ich nicht begriff; wie sehr ich mich
auch abmØhte. Die mich quÄlte mit brennenden, unverstÄndlichen Fragen.
Die Stimme aber, die diese sichtbaren Worte redete, war abgestorben und
ohne Widerhall.
Jeder Laut, der in der Welt der Gegenwart erklingt, hat viele Echos,
wie jegliches Ding einen groñen Schatten hat und viele kleine Schatten, doch
diese Stimme hatte keine Echos mehr, - lange, lange schon sind sie wohl
verweht und verklungen. - - -
Und bis zu Ende hatte ich das Buch gelesen und hielt es noch in den
HÄnden, da war mir, als hÄtte ich suchend in meinem Gehirn geblÄttert und
nicht in einem Buche! - -
Alles, was mir die Stimme gesagt, hatte ich, seit ich lebte, in mir
getragen, nur verdeckt war es gewesen und vergessen und hatte sich vor
meinem Denken versteckt gehalten bis auf den heutigen Tag. -
Ich blickte auf.
Wo war der Mann, der mir das Buch gebracht hatte?
Fortgegangen!?
Wird er es holen, wenn es fertig ist?
Oder sollte ich es ihm bringen? -
Aber ich konnte mich nicht erinnern, dañ er gesagt hÄtte, wo er wohne.
Ich wollte mir seine Erscheinung ins GedÄchtnis zurØckrufen, doch es
miñlang.
Wie war er nur gekleidet gewesen? War er alt, war er jung? - Und welche
Farben hatten sein Haar und sein Bart gehabt?
Nichts, gar nichts mehr konnte ich mir vorstellen. - Alle Bilder, die
ich mir von ihm schuf, zerrannen haltlos, noch ehe ich sie im Geiste
zusammenzusetzen vermochte.
Ich schloñ die Augen und preñte die Hand auf die Lider, um einen
winzigen Teil nur seines Bildnisses zu erhaschen.
Nichts, nichts.
Ich stellte mich hin, mitten ins Zimmer, und blickte auf die TØr, wie
ich es getan - vorhin, als er gekommen war, und malte mir aus: jetzt biegt
er um die Ecke, jetzt schreitet er Øber den Ziegelsteinboden, liest jetzt
drauñen mein TØrschild "Athanasius Pernath" und jetzt tritt er herein.
Vergebens.
Nicht die leiseste Spur einer Erinnerung, wie seine Gestalt ausgesehen,
wollte in mir erwachen.
Ich sah das Buch auf dem Tische liegen und wØnschte mir im Geiste die
Hand dazu, die es aus der Tasche gezogen und mir gereicht hatte.
Nicht einmal, ob sie einen Handschuh getragen, ob sie entblÃñt gewesen,
ob jung oder runzlig, mit Ringen geschmØckt oder nicht, konnte ich mich
entsinnen.
Da kam mir ein seltsamer Einfall.
Wie eine Eingebung war es, der man nicht widerstehen darf.
Ich zog meinen Mantel an, setzte meinen Hut auf und ging hinaus auf den
Gang und die Treppen hinab. Dann kam ich langsam wieder zurØck in mein
Zimmer.
Langsam, ganz langsam, so wie er, als er gekommen war. Und als ich die
TØr Ãffnete, da sah ich, dañ meine Kammer voll DÄmmerung lag. War es denn
nicht heller Tag noch gewesen, als ich soeben hinausging?
Wie lange muñte ich da gegrØbelt haben, dañ ich nicht bemerkte, wie
spÄt es ist!
Und ich versuchte den Unbekannten nachzuahmen in Gang und Mienen und
konnte mich an sie doch gar nicht erinnern. -
Wie sollte es mir auch glØcken, ihn nachzuahmen, wenn ich keinen
Anhaltspunkt mehr hatte, wie er ausgesehen haben mochte.
Aber es kam anders. Ganz anders, als ich dachte.
Meine Haut, meine Muskeln, mein KÃrper erinnerten sich plÃtzlich, ohne
es dem Gehirn zu verraten. Sie machten Bewegungen, die ich nicht wØnschte
und nicht beabsichtigte.
Als ob meine Glieder nicht mehr mir gehÃrten!
Mit einem Male war mein Gang tappend und fremdartig geworden, als ich
ein paar Schritte im Zimmer machte.
Das ist der Gang eines Menschen, der bestÄndig im Begriffe ist,
vornØber zu fallen, sagte ich mir.
Ja, ja, ja, so war sein Gang!
Ganz deutlich wuñte ich: so ist er.
Ich trug ein fremdes, bartloses Gesicht mit hervorstehenden
Backenknochen und schaute aus schrÄgstehenden Augen.
Ich fØhlte es und konnte mich doch nicht sehen.
Das ist nicht mein Gesicht, wollte ich entsetzt aufschreien, wollte es
betasten, doch meine Hand folgte meinem Willen nicht und senkte sich in die
Tasche und holte ein Buch hervor.
Ganz so, wie er es vorhin getan hatte. -
Da plÃtzlich sitze ich wieder ohne Hut, ohne Mantel, am Tische und bin
ich. Ich, ich.
Athanasius Pernath.
Grausen und Entsetzen schØttelten mich, mein Herz raste zum
Zerspringen, und ich fØhlte: gespenstische Finger, die soeben noch in meinem
Gehirn herumgetastet, haben von mir abgelassen.
Noch spØrte ich im Hinterkopf die kalten Spuren ihrer BerØhrung. -
Nun wuñte ich, wie der Fremde war, und ich hÄtte ihn wieder in mir
fØhlen kÃnnen, - jeden Augenblick - wenn ich nur gewollt hÄtte; aber sein
Bild mir vorzustellen, dañ ich es vor mir sehen wØrde Auge in Auge - das
vermochte ich noch immer nicht und werde es auch nie kÃnnen.
Es ist wie ein Negativ, eine unsichtbare Hohlform, erkannte ich, deren
Linien ich nicht erfassen kann - in die ich selber hineinschlØpfen muñ, wenn
ich mir ihrer Gestalt und ihres Ausdrucks im eigenen Ich bewuñt werden will
- -
In der Schublade meines Tisches stand eine eiserne Kassette; - in diese
wollte ich das Buch sperren und erst, wenn der Zustand der geistigen
Krankheit von mir gewichen sein wØrde, wollte ich es wieder hervorholen und
an die Ausbesserung des zerbrochenen Initialen "I" gehen.
Und ich nahm das Buch vom Tisch.
Da war mir, als hÄtte ich es gar nicht angefañt; ich griff die Kassette
an: dasselbe GefØhl. Als mØñte das Tastempfinden eine lange, lange Strecke
voll tiefer Dunkelheit durchlaufen, ehe es in meinem Bewuñtsein mØndete, als
seien die Dinge durch eine jahresgroñe Zeitschicht von mir entfernt und
gehÃrten einer Vergangenheit an, die lÄngst an mir vorØbergezogen!
Die Stimme, die nach mir suchend in der Finsternis kreist, um mich mit
dem fettigen Stein zu quÄlen, ist an mir vorbeigekommen und hat mich nicht
gesehen. Und ich weiñ, dañ sie aus dem Reiche des Schlafes stammt. Aber was
ich erlebt, das war wirkliches Leben, - darum konnte sie mich nicht sehen
und sucht vergeblich nach mir, fØhle ich.
Prag
Neben mir stand der Student Charousek, den Kragen seines dØnnen,
fadenscheinigen øberziehers aufgeschlagen, und ich hÃrte, wie ihm vor KÄlte
die ZÄhne aufeinanderschlugen.
Er kann sich den Tod holen in diesem zugigen, eisigen Torbogen, sagte
ich mir, und ich forderte ihn auf, mit hinØber in meine Wohnung zu kommen.
Er aber lehnte ab.
"Ich danke Ihnen, Meister Pernath," murmelte er frÃstelnd, "leider habe
ich nicht mehr so viel Zeit Øbrig; - ich muñ eilends in die Stadt. - Auch
wØrden wir bis auf die Haut nañ, wenn wir jetzt auf die Gasse treten wollten
- schon nach wenigen Schritten! - - Der Platzregen will nicht schwÄcher
werden!"
Die Wasserschauer fegten Øber die DÄcher hin und liefen an den
Gesichtern der HÄuser herunter wie ein TrÄnenstrom.
Wenn ich den Kopf ein wenig vorbog, konnte ich da drØben im vierten
Stock mein Fenster sehen, das, vom Regen Øberrieselt, aussah, als seien
seine Scheiben aufgeweicht, - undurchsichtig und hÃckerig geworden wie
Hausenblase.
Ein gelber Schmutzbach floñ die Gasse herab, und der Torbogen fØllte
sich mit VorØbergehenden, die alle das Nachlassen des Unwetters abwarten
wollten.
"Dort schwimmt ein Brautbukett", sagte plÃtzlich Charousek und deutete
auf einen Strauñ aus welken Myrten, der in dem Schmutzwasser vorbeigetrieben
kam.
DarØber lachte jemand hinter uns laut auf.
Als ich mich umdrehte, sah ich, dañ es ein alter, vornehm gekleideter
Herr mit weiñem Haar und einem aufgedunsenen, krÃtenartigen Gesicht gewesen
war.
Charousek blickte ebenfalls einen Augenblick zurØck und brummte etwas
vor sich hin.
Unangenehmes ging von dem Alten aus; - ich wandte meine Aufmerksamkeit
von ihm ab und musterte die miñfarbigen HÄuser, die da vor meinen Augen wie
verdrossene alte Tiere im Regen nebeneinander hockten.
Wie unheimlich und verkommen sie alle aussahen!
Ohne øberlegung hingebaut standen sie da, wie Unkraut, das aus dem
Boden dringt.
An eine niedrige, gelbe Steinmauer, den einzigen standhaltenden
øberrest eines frØheren, langgestreckten GebÄudes, hat man sie angelehnt -
vor zwei, drei Jahrhunderten, wie es eben kam, ohne RØcksicht auf die
Øbrigen zu nehmen. Dort ein halbes, schiefwinkliges Haus mit
zurØckspringender Stirn; - ein andres daneben: vorstehend wie ein Eckzahn.
Unter dem trØben Himmel sahen sie aus, als lÄgen sie im Schlaf, und man
spØlte nichts von dem tØckischen, feindseligen Leben, das zuweilen von ihnen
ausstrahlt, wenn der Nebel der Herbstabende in den Gassen liegt und ihr
leises, kaum merkliches Mienenspiel verbergen hilft.
In dem Menschenalter, das ich nun hier wohne, hat sich der Eindruck in
mir festgesetzt, den ich nicht loswerden kann, als ob es gewisse Stunden des
Nachts und im frØhesten Morgengrauen fØr sie gÄbe, wo sie erregt eine
lautlose, geheimnisvolle Beratung pflegen. Und manchmal fÄhrt da ein
schwaches Beben durch ihre Mauern, das sich nicht erklÄren lÄñt, GerÄusche
laufen Øber ihre DÄcher und fallen in den Regenrinnen nieder, - und wir
nehmen sie mit stumpfen Sinnen achtlos hin, ohne nach ihrer Ursache zu
forschen.
Oft trÄumte mir, ich hÄtte diese HÄuser belauscht in ihrem spukhaften
Treiben und mit angstvollem Staunen erfahren, dañ sie die heimlichen,
eigentlichen Herren der Gasse seien, sich ihres Lebens und FØhlens entÄuñern
und es wieder an sich ziehen kÃnnen, - es tagsØber den Bewohnern, die hier
hausen, borgen, um es in kommender Nacht mit Wucherzinsen wieder
zurØckzufordern.
Und lasse ich die seltsamen Menschen, die in ihnen wohnen wie Schemen,
wie Wesen - nicht von MØttern geboren, - die in ihrem Denken und Tun wie aus
StØcken wahllos zusammengefØgt scheinen, im Geiste an mir vorØberziehen, so
bin ich mehr denn je geneigt zu glauben, dañ solche TrÄume in sich dunkle
Wahrheiten bergen, die mir im Wachsein nur noch wie EindrØcke von farbigen
MÄrchen in der Seele fortglimmen.
Dann wacht in mir heimlich die Sage von dem gespenstischen Golem, jenem
kØnstlichen Menschen, wieder auf, den einst hier im Getto ein
kabbalakundiger Rabbiner aus dem Elemente formte und ihn zu einem
gedankenlosen automatischen Dasein berief, indem er ihm ein magisches
Zahlenwort hinter die ZÄhne schob.
Und wie jener Golem zu einem Lehmbild in derselben Sekunde erstarrte,
in der die geheime Silbe des Lebens aus seinem Munde genommen ward, so
mØñten auch, dØnkt mich, alle diese Menschen entseelt in einem Augenblick
zusammenfallen, lÃschte man irgendeinen winzigen Begriff, ein
nebensÄchliches Streben, vielleicht eine zwecklose Gewohnheit bei dem einen,
bei einem andern gar nur ein dumpfes Warten auf etwas gÄnzlich Unbestimmtes,
Haltloses - in ihrem Hirn aus.
Was ist dabei fØr ein immerwÄhrendes, schreckhaftes Lauern in diesen
GeschÃpfen!
Niemals sieht man sie arbeiten, diese Menschen, und dennoch sind sie
frØh beim ersten Leuchten des Morgens wach und warten mit angehaltenem Atem
- wie auf ein Opfer, das doch nie kommt.
Und hat es wirklich einmal den Anschein, als trÄte jemand in ihren
Bereich, irgendein Wehrloser, an dem sie sich bereichern kÃnnten, dann fÄllt
plÃtzlich eine lÄhmende Angst Øber sie her, scheucht sie in ihre Winkel
zurØck und lÄñt sie von jeglichem Vorhaben zitternd abstehen.
Niemand scheint schwach genug, dañ ihnen noch so viel Mut bliebe, sich
seiner zu bemÄchtigen.
"Entartete, zahnlose Raubtiere, von denen die Kraft und die Waffe
genommen ist", sagte Charousek zÃgernd und sah mich an. -
Wie konnte er wissen, woran ich dachte? -
So stark facht man zuweilen seine Gedanken an, dañ sie imstande sind,
auf das Gehirn des Nebenstehenden Øberzuspringen wie sprØhende Funken,
fØhlte ich.
"- - - wovon sie nur leben mÃgen?" sagte ich nach einer Weile.
"Leben? Wovon? Mancher unter ihnen ist ein MillionÄr!"
Ich blickte Charousek an. Was konnte er damit meinen!
Der Student aber schwieg und sah nach den Wolken.
FØr einen Augenblick hatte das Stimmengemurmel in dem Torbogen
gestockt, und man hÃrte bloñ das Zischen des Regens.
Was er nur damit sagen will: "Mancher unter ihnen ist ein MillionÄr!?"
Wieder war es, als hÄtte Charousek meine Gedanken erraten. Er wies nach
dem TrÃdlerladen neben uns, an dem das Wasser den Rost des EisengerØmpels in
flieñenden, braunroten PfØtzen vorbeispØlte.
"Aaron Wassertrum! Er zum Beispiel ist MillionÄr, - fast ein Drittel
der Judenstadt ist sein Besitz. Wissen Sie es denn nicht, Herr Pernath?!"
Mir blieb fÃrmlich der Atem im Mund stecken. "Aaron Wassertrum! Der
TrÃdler Aaron Wassertrum MillionÄr?!"
"Oh, ich kenne ihn genau", fuhr Charousek verbissen fort, und als hÄtte
er nur darauf gewartet, dañ ich ihn frage. "Ich kannte auch seinen Sohn, den
Dr. Wassory. Haben Sie nie von ihm gehÃrt? Von Dr. Wassory, dem - berØhmten
- Augenarzt? - Vor einem Jahr noch hat die ganze Stadt begeistert von ihm
gesprochen, - von dem groñen - - Gelehrten. Niemand wuñte damals, dañ er
seinen Namen abgelegt und frØher Wassertrum geheiñen. - Er spielte sich
gerne auf den weitabgewandten Mann der Wissenschaft hinaus, und wenn einmal
auf Herkunft die Rede kam, warf er bescheiden und tiefbewegt so mit halben
Worten hin, dañ sein Vater noch aus dem Getto stamme, - sich aus den
niedrigsten AnfÄngen heraus unter Kummer aller Art und unsÄglichen Sorgen
empor ans Licht habe arbeiten mØssen.
Ja! Unter Kummer und Sorgen!
Unter wessen Kummer und unsÄglichen Sorgen aber und mit welchen
Mitteln, das hat er nicht dazu gesagt!
Ich aber weiñ, was es mit dem Getto fØr eine Bewandtnis hat!" Charousek
fañte meinen Arm und schØttelte ihn heftig.
"Meister Pernath, ich bin so arm, dañ ich es selbst kaum mehr begreife;
ich muñ halbnackt gehen wie ein Vagabund, sehen Sie her, und ich bin doch
Student der Medizin, - bin doch ein gebildeter Mensch!"
Er riñ seinen øberzieher auf und ich sah zu meinem Entsetzen, dañ er
weder Hemd noch Rock anhatte und den Mantel Øber der nackten Haut trug.
"Und so arm war ich bereits, als ich diese Bestie, diesen allmÄchtigen,
angesehenen Dr. Wassory zu Fall brachte, - und noch heute ahnt keiner, dañ
ich, ich der eigentliche Urheber war.
Man meint in der Stadt, ein gewisser Dr. Savioli sei es gewesen, der
seine Praktiken ans Tageslicht gezogen und ihn dann zum Selbstmord getrieben
hat. - Dr. Savioli war nichts als mein Werkzeug, sage ich Ihnen. Ich allein
habe den Plan erdacht und das Material zusammengetragen, habe die Beweise
geliefert und leise und unmerklich Stein um Stein in dem GebÄude Dr.
Wassorys gelockert, bis der Zustand erreicht war, wo kein Geld der Erde,
keine List des Gettos mehr vermocht hÄtten, den Zusammenbruch, zu dem es nur
noch eines unmerklichen Anstoñes bedurfte, abzuwenden.
Wissen Sie, so - so wie man Schach spielt.
Gerade so wie man Schach spielt.
Und niemand weiñ, dañ ich es war!
Den TrÃdler Aaron Wassertrum, den lÄñt wohl manchmal eine furchtbare
Ahnung nicht schlafen, dañ einer, den er nicht kennt, der immer in seiner
NÄhe ist und den er doch nicht fassen kann, - ein anderer als Dr. Savioli -
die Hand im Spiele gehabt haben mØsse.
Wiewohl Wassertrum einer von jenen ist, deren Augen durch Mauern zu
schauen vermÃgen, so fañt er es doch nicht, dañ es Gehirne gibt, die
auszurechnen imstande sind, wie man mit langen, unsichtbaren, vergifteten
Nadeln durch solche Mauern stechen kann, an Quadern, an Gold und Edelsteinen
vorbei, um die verborgene Lebensader zu treffen."
Und Charousek schlug sich vor die Stirn und lachte wild.
"Aaron Wassertrum wird es bald erfahren; genau an dem Tage, an dem er
Dr. Savioli an den Hals will! Genau an demselben Tage!
Auch diese Schachpartie habe ich ausgerechnet bis zum letzten Zug. -
Diesmal wird es ein KÃnigslÄufergambit sein. Da gibt es keinen einzigen Zug
bis zum bittern Ende, gegen den ich nicht eine verderbliche Entgegnung
wØñte.
Wer sich mit mir in ein solches KÃnigslÄufergambit einlÄñt, der hÄngt
in der Luft, sage ich Ihnen, wie eine hilflose Marionette an feinen FÄden, -
an FÄden, die ich zupfe, - hÃren Sie wohl, die ich zupfe, und mit dessen
freiem Willen ist's dahin."
Der Student redete wie im Fieber, und ich sah ihm entsetzt ins Gesicht.
"Was haben Ihnen Wassertrum und sein Sohn denn getan, dañ Sie so voll
Hañ sind?"
Charousek wehrte heftig ab:
"Lassen wir das - fragen Sie lieber, was Dr. Wassory den Hals gebrochen
hat! - Oder wØnschen Sie, dañ wir ein andres Mal darØber sprechen? - Der
Regen hat nachgelassen. Vielleicht wollen Sie nach Hause gehen?"
Er senkte seine Stimme, wie jemand, der plÃtzlich ganz ruhig wird. Ich
schØttelte den Kopf.
"Haben Sie jemals gehÃrt, wie man heutzutage den grØnen Star heilt? -
Nicht? - So muñ ich Ihnen das deutlich machen, damit Sie alles genau
verstehen, Meister Pernath!
HÃren Sie zu: Der 'grØne Star' also ist eine bÃsartige Erkrankung des
Augeninnern, die mit Erblinden endet, und es gibt nur ein Mittel, dem
Fortschreiten des øbels Einhalt zu tun, nÄmlich die sogenannte Iridektomie,
die darin besteht, dañ man aus der Regenbogenhaut des Auges ein keilfÃrmiges
StØckchen herauszwickt.
Die unvermeidlichen Folgen davon sind wohl greuliche
Blendungserscheinungen, die fØrs ganze Leben bleiben; der Prozeñ des
Erblindens jedoch ist meistens aufgehalten.
Mit der Diagnose des grØnen Stars hat es aber eine eigene Bewandtnis.
Es gibt nÄmlich Zeiten, besonders bei Beginn der Krankheit, wo die
deutlichsten Symptome scheinbar ganz zurØcktreten, und in solchen FÄllen
darf ein Arzt, obwohl er keine Spur einer Krankheit finden kann, dennoch
niemals mit Bestimmtheit sagen, dañ sein VorgÄnger, der andrer Meinung
gewesen, sich notwendigerweise geirrt haben mØsse.
Hat aber einmal die erwÄhnte Iridektomie, die sich natØrlich genauso an
einem gesunden Auge wie an einem kranken ausfØhren lÄñt, stattgefunden, so
kann man unmÃglich mehr feststellen, ob frØher wirklich grØner Star
vorgelegen hat oder nicht.
Und auf diese und noch andere UmstÄnde hatte Dr. Wassory einen
scheuñlichen Plan aufgebaut.
UnzÄhlige Male - besonders an Frauen - konstatierte er grØnen Star, wo
harmlose SehstÃrungen vorlagen, nur um zu einer Operation zu kommen, die ihm
keine MØhe machte und viel Geld eintrug.
Da endlich hatte er vollkommen Wehrlose in der Hand; da gehÃrte zum
AusplØndern auch keine Spur von Mut mehr!
Sehen Sie, Meister Pernath, da war das degenerierte Raubtier in jene
Lebensbedingungen versetzt, wo es auch ohne Waffe und Kraft seine Opfer
zerfleischen konnte.
Ohne etwas aufs Spiel zu setzen! - Begreifen Sie?! Ohne das geringste
wagen zu mØssen!
Durch eine Menge fauler VerÃffentlichungen in FachblÄttern hatte sich
Dr. Wassory in den Ruf eines hervorragenden Spezialisten zu setzen
verstanden und sogar seinen Kollegen, die viel zu arglos und anstÄndig
waren, um ihn zu durchschauen, Sand in die Augen zu streuen gewuñt.
Ein Strom von Patienten, die alle bei ihm Hilfe suchten, war die
natØrliche Folge.
Kam nun jemand mit geringfØgigen SehstÃrungen zu ihm und lieñ sich
untersuchen, so ging Dr. Wassory sofort mit tØckischer PlanmÄñigkeit zu
Werke.
Zuerst stellte er das Øbliche KrankenverhÃr an, notierte aber geschickt
immer nur, um fØr alle FÄlle gedeckt zu sein, jene Antworten, die eine
Deutung auf grØnen Star zulieñen.
Und vorsichtig sondierte er, ob nicht schon eine frØhere Diagnose
vorlÄge.
GesprÄchsweise lieñ er einflieñen, dañ ein dringender Ruf aus dem
Auslande behufs wichtiger wissenschaftlicher Mañnahmen an ihn ergangen sei
und er daher schon morgen verreisen mØsse. -
Bei der Augenspiegelung mit elektrischen Lichtstrahlen, die er sodann
vornahm, bereitete er dem Kranken absichtlich so viel Schmerzen wie mÃglich.
Alles mit Vorbedacht! Alles mit Vorbedacht!
Wenn das VerhÃr vorØber und die Øbliche bange Frage des Patienten, ob
Grund zur BefØrchtung vorhanden sei, erfolgt war, da tat Wassory seinen
ersten Schachzug.
Er setzte sich dem Kranken gegenØber, lieñ eine Minute verstreichen und
sprach dann gemessen und mit sonorer Stimme den Satz:
"Erblindung beider Augen ist bereits in der allernÄchsten Zeit wohl
unvermeidlich!"
Die Szene, die naturgemÄñ folgte, war entsetzlich.
Oft fielen die Leute in Ohnmacht, weinten und schrien und warfen sich
in wilder Verzweiflung zu Boden.
Das Augenlicht verlieren, heiñt alles verlieren.
Und wenn der wiederum Øbliche Moment eintrat, wo das arme Opfer die
Knie Dr. Wassorys umklammerte und flehte, ob es denn auf Gottes Erde gar
keine Hilfe mehr gÄbe, da tat die Bestie den zweiten Schachzug und
verwandelte sich selbst in jenen - Gott, der helfen konnte!
Alles, alles in der Welt ist wie ein Schachzug, Meister Pernath! -
Schleunigste Operation, sagte Dr. Wassory dann nachdenklich, sei das
einzige, was vielleicht Rettung bringen kÃnne, und mit einer wilden,
gierigen Eitelkeit, die plÃtzlich Øber ihn kam, erging er sich mit einem
Redeschwall in weitschweifigem Ausmalen dieses und jenes Falles, die alle
mit dem vorliegenden eine ungemein groñe ähnlichkeit gehabt hÄtten, - wie
unzÄhlige Kranke ihm allein die Erhaltung des Augenlichts verdankten und
dergleichen mehr.
Er schwelgte fÃrmlich in dem GefØhl, fØr eine Art hÃheren Wesens
gehalten zu werden, in dessen HÄnde das Wohl und Wehe seines Mitmenschen
gelegt ist.
Das hilflose Opfer aber sañ, das Herz voll brennender Fragen, gebrochen
vor ihm, Angstschweiñ auf der Stirne, und wagte ihm nicht einmal in die Rede
zu fallen, aus Furcht: ihn - den einzigen, der noch Hilfe bringen konnte -
zu erzØrnen.
Und mit den Worten, dañ er zur Operation leider erst in einigen Monaten
schreiten kÃnne, wenn er von seiner Reise wieder zurØck sei, schloñ Dr.
Wassory seine Rede.
Hoffentlich - man solle in solchen FÄllen immer das Beste hoffen - sei
es dann nicht zu spÄt, sagte er.
NatØrlich sprangen dann die Kranken entsetzt auf, erklÄrten, dañ sie
unter gar keinen UmstÄnden auch nur einen Tag lÄnger warten wollten, und
baten flehentlich um Rat, wer von den andern AugenÄrzten in der Stadt sonst
wohl als Operateur in Betracht kommen kÃnnte.
Da war der Augenblick gekommen, wo Dr. Wassory den entscheidenden
Schlag fØhrte.
Er ging in tiefem Nachdenken auf und ab, legte seine Stirn in Falten
des Grams und lispelte schlieñlich bekØmmert, ein Eingriff seitens eines
andern Arztes bedinge leider eine abermalige Bespiegelung des Auges mit
elektrischem Licht, und das mØsse - der Patient wisse ja selbst, wie
schmerzhaft es sei - wegen der blendenden Strahlen geradezu verhÄngnisvoll
wirken.
Ein andrer Arzt also, ganz abgesehen davon, dañ so manchem von ihnen
gerade in der Iridektomie die nÃtige øbung fehle - dØrfe, eben weil er
wiederum von neuem untersuchen mØsse, gar nicht vor Ablauf lÄngerer Zeit,
bis sich die Sehnerven wieder erholt hÄtten, zu einem chirurgischen Eingriff
schreiten."
Charousek ballte die FÄuste.
"Das nennen wir in der Schachsprache 'Zugzwang', lieber Meister
Pernath! - - Was weiter folgte, war wiederum Zugzwang, - ein erzwungener Zug
nach dem andern.
Halb wahnsinnig vor Verzweiflung beschwor nun der Patient den Dr.
Wassory, er mÃge doch Erbarmen haben, einen Tag nur seine Abreise
verschieben und die Operation selber vornehmen. - Es handle sich doch um
mehr als um schnellen Tod, die grauenhafte, folternde Angst, jeden
Augenblick erblinden zu mØssen, sei ja das Schrecklichste, was es geben
kÃnne.
Und je mehr das Scheusal sich strÄubte und jammerte: ein Aufschub
seiner Reise kÃnne ihm unabsehbaren Schaden bringen, desto hÃhere Summen
boten freiwillig die Kranken.
Schien schlieñlich die Summe Dr. Wassory hoch genug, gab er nach und
fØgte bereits am selben Tage, ehe noch ein Zufall seinen Plan aufdecken
konnte, den Bedauernswerten an beiden gesunden Augen jenen unheilbaren
Schaden zu, jenes immerwÄhrende GefØhl des Geblendetseins, das das Leben zu
stetiger Qual gestalten muñte, die Spuren des Schurkenstreiches aber ein fØr
allemal verwischte.
Durch solche Operationen an gesunden Augen vermehrte Dr. Wassory nicht
nur seinen Ruhm und seinen Ruf als unvergleichlicher Arzt, dem es noch
jedesmal gelungen sei, die drohende Erblindung aufzuhalten, - es befriedigte
gleichzeitig seine mañlose Geldgier und frÃnte seiner Eitelkeit, wenn die
ahnungslosen, an KÃrper und VermÃgen geschÄdigten Opfer zu ihm wie zu einem
Helfer aufsahen und ihn als Retter priesen.
Nur ein Mensch, der mit allen Fasern im Getto und seinen zahllosen,
unscheinbaren, jedoch unØberwindlichen Hilfsquellen wurzelte und von
Kindheit an gelernt hat, auf der Lauer zu liegen wie eine Spinne, der jeden
Menschen in der Stadt kannte und bis ins kleinste seine Beziehungen und
VermÃgensverhÄltnisse erriet und durchschaute, - nur ein solcher -
"Halbhellseher" mÃchte man es beinahe nennen, - konnte jahrelang derartige
Scheuñlichkeiten verØben.
Und wÄre ich nicht gewesen, bis heute triebe er sein Handwerk noch,
wØrde es bis ins hohe Alter weiterbetrieben haben, um schlieñlich als
ehrwØrdiger Patriarch im Kreise seiner Lieben, angetan mit hohen Ehren,
kØnftigen Geschlechtern ein leuchtendes Vorbild, seinen Lebensabend zu
genieñen, bis - bis endlich auch Øber ihn das groñe Verrecken hinweggezogen
wÄre.
Ich aber wuchs ebenfalls im Getto auf, und auch mein Blut ist mit jener
AtmosphÄre hÃllischer List gesÄttigt, und so vermochte ich ihn zu Fall zu
bringen, - so wie die Unsichtbaren einen Menschen zu Fall bringen, - wie aus
heiterm Himmel heraus ein Blitz trifft.
Dr. Savioli, ein junger deutscher Arzt, hat das Verdienst der
Entlarvung, - ihn schob ich vor und hÄufte Beweis auf Beweis, bis der Tag
anbrach, wo der Staatsanwalt seine Hand nach Dr. Wassory ausstreckte.
Da beging die Bestie Selbstmord! - Gesegnet sei die Stunde!
Als hÄtte mein DoppelgÄnger neben ihm gestanden und ihm die Hand
gefØhrt, nahm er sich das Leben mit jener Phiole Amylnitrit, die ich
absichtlich in seinem Ordinationszimmer bei der Gelegenheit hatte
stehenlassen, als ich selbst ihn einmal verleitet, auch an mir die falsche
Diagnose des grØnen Stars zu stellen, - absichtlich und mit dem glØhenden
Wunsche, dañ es dieses Amylnitrit sein mÃchte, das ihm den letzten Stoñ
geben sollte.
Der Gehirnschlag hÄtte ihn getroffen, hieñ es in der Stadt.
Amylnitrit tÃtet, eingeatmet, wie Gehirnschlag. Aber lange konnte das
GerØcht nicht aufrechterhalten werden."
Charousek starrte plÃtzlich geistesabwesend, als habe er sich in ein
tiefes Problem verloren, vor sich hin, dann zuckte er mit der Achsel nach
der Richtung, wo Aaron Wassertrums TrÃdlerladen lag.
"Jetzt ist er allein," murmelte er, "ganz allein mit seiner Gier und -
und - und mit der Wachspuppe!"
Mir schlug das Herz bis zum Hals.
Ich sah Charousek voll Entsetzen an.
War er wahnsinnig? Es muñten Fieberphantasien sein, die ihn diese Dinge
erfinden lieñen.
Gewiñ, gewiñ! Er hat alles erfunden, getrÄumt!
Es kann nicht wahr sein, was er da Øber den Augenarzt Grauenhaftes
erzÄhlt hat. Er ist schwindsØchtig, und die Fieber des Todes kreisen in
seinem Hirn.
Und ich wollte ihn mit ein paar scherzenden Worten beruhigen, seine
Gedanken in eine freundliche Richtung lenken.
Da fuhr, noch ehe ich die Worte fand, wie ein Blitz in meine Erinnerung
das Gesicht Wassertrums mit der gespaltenen Oberlippe, wie es damals in mein
Zimmer mit runden Fischaugen durch die aufgerissene TØr hereingeschaut
hatte.
Dr. Savioli! Dr. Savioli! - ja, ja, so war auch der Name des jungen
Mannes gewesen, den mir der Marionettenspieler Zwakh flØsternd anvertraut
als den des vornehmen Zimmerherrn, der von ihm das Atelier gemietet hatte.
Dr. Savioli! - Wie ein Schrei tauchte es in meinem Innern auf. Eine
Reihe nebelhafter Bilder zuckte durch meinen Geist, jagte sich mit
schreckhaften Vermutungen, die auf mich einstØrmten.
Ich wollte Charousek fragen, ihm voll Angst rasch alles erzÄhlen, was
ich damals erlebt, da sah ich, dañ ein heftiger Hustenanfall sich seiner
bemÄchtigt hatte und ihn fast umwarf. Ich konnte nur noch unterscheiden, wie
er sich mØhsam mit den HÄnden an der Mauer stØtzend in den Regen
hinaustappte und mir einen flØchtigen Gruñ zunickte.
Ja, ja, er hat recht, er sprach nicht im Fieber, - fØhlte ich, - das
unfañbare Gespenst des Verbrechens ist es, das durch diese Gassen schleicht
Tag und Nacht und sich zu verkÃrpern sucht.
Es liegt in der Luft, und wir sehen es nicht. PlÃtzlich schlÄgt es sich
nieder in einer Menschenseele, - wir ahnen es nicht, - da, dort, und ehe wir
es fassen kÃnnen, ist es gestaltlos geworden und alles lÄngst vorØber.
Und nur noch dunkle Worte Øber irgendein entsetzliches Geschehnis
kommen an uns heran.
Mit einem Schlage begriff ich diese rÄtselhaften GeschÃpfe, die rings
um mich wohnten, in ihrem innersten Wesen: sie treiben willenlos durchs
Dasein von einem unsichtbaren magnetischen Strom belebt - - so, wie vorhin
das Brautbukett in dem schmutzigen Rinnsal vorØberschwamm.
Mir war, als starrten die HÄuser alle mit tØckischen Gesichtern voll
namenloser Bosheit auf mich herØber, - die Tore: aufgerissene schwarze
MÄuler, aus denen die Zungen ausgefault waren, - Rachen, die jeden
Augenblick einen gellenden Schrei ausstoñen konnten, so gellend und
hañerfØllt, dañ es uns bis ins Innerste erschrecken mØñte.
Was hatte zum Schluñ noch der Student Øber den TrÃdler gesagt? - Ich
flØsterte mir seine Worte vor: - Aaron Wassertrum sei jetzt allein mit
seiner Gier und - - seiner Wachspuppe.
Was kann er nur mit der Wachspuppe gemeint haben?
Es muñ ein Gleichnis gewesen sein, beschwichtigte ich mich, - eines
jener krankhaften Gleichnisse, mit denen er einen zu Øberfallen pflegt, die
man nicht versteht, und die einen, wenn sie spÄter unerwartet sichtbar
werden, so tieferschrecken kÃnnen wie die Dinge von ungewohnter Form, auf
die plÃtzlich ein greller Lichtstreif fÄllt.
Ich holte tief Atem, um mich zu beruhigen und den furchtbaren Eindruck,
den mir Charouseks ErzÄhlung verursacht hatte, abzuschØtteln.
Ich sah die Leute genauer an, die mit mir in dem Hausflur warteten:
Neben mir stand jetzt der dicke Alte. Derselbe, der vorhin so widerlich
gelacht hatte.
Er hatte einen schwarzen Gehrock an und Handschuhe und starrte mit
vorquellenden Augen unverwandt auf den Torbogen des Hauses gegenØber.
Sein glattrasiertes Gesicht mit den breiten, gemeinen ZØgen zuckte vor
Erregung.
UnwillkØrlich folgte ich seinen Blicken und bemerkte, dañ sie wie
gebannt an der rothaarigen Rosina hingen, die drØben jenseits der Gasse
stand, ihr immerwÄhrendes LÄcheln um die Lippen.
Der Alte war bemØht, ihr Zeichen zu geben, und ich sah, dañ sie es wohl
wuñte, aber sich benahm, als verstØnde sie nicht.
Endlich hielt es der Alte nicht lÄnger aus, watete auf den Fuñspitzen
hinØber und hØpfte mit lÄcherlicher ElastizitÄt wie ein groñer schwarzer
Gummiball Øber die PfØtzen.
Man schien ihn zu kennen, denn ich hÃrte allerhand Glossen fallen, die
darauf hinzielten. Ein Strolch hinter mir, ein rotes, gestricktes Tuch um
den Hals, mit blauer MilitÄrmØtze, die Virginia hinter dem Ohr, machte mit
grinsendem Mund Anspielungen, die ich nicht verstand.
Ich begriff nur, dañ sie den Alten in der Judenstadt den "Freimaurer"
nannten und in ihrer Sprache mit diesem Spitznamen jemand bezeichnen
wollten, der sich an halbwØchsigen MÄdchen zu vergehen pflegt, aber durch
intime Beziehungen zur Polizei vor jeder Strafe sicher ist. - - -
Dann waren das Gesicht Rosinas und der Alte drØben im Dunkel des
Hausflures verschwunden.
Punsch
Wir hatten das Fenster geÃffnet, um den Tabakrauch aus meinem kleinen
Zimmer strÃmen zu lassen.
Der kalte Nachtwind blies herein und wehte an die zottigen MÄntel, die
an der TØre hingen, dañ sie leise hin und her schwankten.
"Prokops wØrdige Haupteszierde mÃchte am liebsten davonfliegen", sagte
Zwakh und deutete auf des Musikers groñen Schlapphut, der die breite Krempe
bewegte wie schwarze FlØgel.
Josua Prokop zwinkerte lustig mit den Augenlidern.
"Er will," sagte er, "er will wahrscheinlich - - -"
"Er will zum 'Loisitschek' zur Tanzmusik", nahm ihm Vrieslander das
Wort vorweg.
Prokop lachte und schlug mit der Hand den Takt zu den KlÄngen, die die
dØnne Winterluft her Øber die DÄcher trug.
Dann nahm er meine alte, zerbrochene Gitarre von der Wand, tat, als
zupfe er die zerbrochenen Saiten und sang mit kreischendem Falsett und
gespreizter Betonung in Rotwelsch ein wunderliches Lied:
"An Bein-del von Ei-sen
recht alt
"An Stran-zen net gar
a so kalt
"Messinung, a' RÄucherl
und Rohn
"und immerrr nurr putz-en - - -
"Wie groñartig er mit einem Mal die Gaunersprache beherrscht!" und
Vrieslander lachte laut auf und brummte mit:
"Und stok-en sich Aufzug
und Pfiff
"Und schmallern an eisernes
G'sØff.
"Juch, -
"Und Handschuhkren, Harom net san - -
"Dieses kuriose Lied schnarrt jeden Abend beim 'Loisitschek' der
meschuggene Nephtali Schaffranek mit dem grØnen Augenschirm, und ein
geschminktes Weibsbild spielt Harmonika und grÃlt den Text dazu", erklÄrte
mir Zwakh. "Sie sollten auch einmal mit uns in diese Schenke gehen, Meister
Pernath. SpÄter vielleicht, wenn wir mit dem Punsch zu Ende sind, - was
meinen Sie? Zur Feier Ihres heutigen Geburtstages?"
"Ja, ja, kommen Sie nachher mit uns", sagte Prokop und klinkte das
Fenster zu, - "man muñ so etwas gesehen haben."
Dann tranken wir den heiñen Punsch und hingen unsern Gedanken nach.
Vrieslander schnitzte an einer Marionette.
"Sie haben uns fÃrmlich von der Auñenwelt abgeschnitten, Josua,"
unterbrach Zwakh die Stille, "seit Sie das Fenster geschlossen haben, hat
niemand mehr ein Wort gesprochen."
"Ich dachte nur darØber nach, als vorhin die MÄntel so flogen, wie
seltsam es ist, wenn der Wind leblose Dinge bewegt," antwortete Prokop
schnell, wie um sich wegen seines Schweigens zu entschuldigen: "Es sieht gar
so wunderlich aus, wenn GegenstÄnde plÃtzlich zu flattern anheben, die sonst
immer tot daliegen. Nicht? - Ich sah einmal auf einem menschenleeren Platz
zu, wie groñe Papierfetzen, - ohne dañ ich vom Winde etwas spØrte, denn ich
stand durch ein Haus gedeckt, - in toller Wut im Kreise herumjagten und
einander verfolgten, als hÄtten sie sich den Tod geschworen. Einen
Augenblick spÄter schienen sie sich beruhigt zu haben, aber plÃtzlich kam
wieder eine wahnwitzige Erbitterung Øber sie, und in sinnlosem Grimm rasten
sie umher, drÄngten sich in einen Winkel zusammen, um von neuem besessen
auseinander zu stieben und schlieñlich hinter einer Ecke zu verschwinden.
Nur eine dicke Zeitung konnte nicht mitkommen; sie blieb auf dem
Pflaster liegen und klappte hañerfØllt auf und zu, als sei ihr der Atem
ausgegangen und als schnappe sie nach Luft.
Ein dunkler Verdacht stieg damals in mir auf: was, wenn am Ende wir
Lebewesen auch so etwas ähnliches wÄren wie solche Papierfetzen? - Ob nicht
vielleicht ein unsichtbarer, unbegreiflicher "Wind" auch uns hin und her
treibt und unsre Handlungen bestimmt, wÄhrend wir in unserer Einfalt glauben
unter eigenem, freiem Willen zu stehen?
Wie, wenn das Leben in uns nichts anderes wÄre als ein rÄtselhafter
Wirbelwind? Jener Wind, von dem die Bibel sagt: Weiñt du, von wannen er
kommt und wohin er geht? - - - TrÄumen wir nicht auch zuweilen, wir griffen
in tiefes Wasser und fingen silberne Fische, und nichts anderes ist
geschehen, als dañ ein kalter Luftzug unsere HÄnde traf?"
"Prokop, Sie sprechen in Worten wie Pernath, was ist's mit Ihnen?"
sagte Zwakh und sah den Musiker miñtrauisch an.
"Die Geschichte vom Buch Ibbur, die vorhin erzÄhlt wurde, - schade, dañ
Sie so spÄt kamen und sie nicht mit anhÃrten, - hat ihn so nachdenklich
gestimmt", meinte Vrieslander.
"Eine Geschichte von einem Buche?"
"Eigentlich von einem Menschen, der ein Buch brachte und seltsam
aussah. - Pernath weiñ nicht, wie er heiñt, wo er wohnt, was er wollte, und
obwohl sein Aussehen sehr auffallend gewesen sein soll, lasse es sich doch
nicht recht schildern."
Zwakh horchte auf.
*"Das ist sehr merkwØrdig," sagte er nach einer Pause, "war der Fremde
vielleicht bartlos, und hatte er schrÄgstehende Augen?"
"Ich glaube," antwortete ich, "das heiñt, ich - ich - weiñ es ganz
bestimmt. Kennen Sie ihn denn?"
Der Marionettenspieler schØttelte den Kopf. "Er erinnerte mich nur an
den 'Golem'."
Der Maler Vrieslander lieñ sein Schnitzmesser sinken:
"Golem? - Ich habe schon so viel davon reden hÃren. Wissen Sie etwas
Øber den Golem, Zwakh?"
"Wer kann sagen, dañ er Øber den Golem etwas wisse?", antwortete Zwakh
und zuckte die Achseln. "Man verweist ihn ins Reich der Sage, bis sich eines
Tages in den Gassen ein Ereignis vollzieht, das ihn plÃtzlich wieder
aufleben lÄñt. Und eine Zeitlang spricht dann jeder von ihm, und die
GerØchte wachsen ins Ungeheuerliche. Werden so Øbertrieben und aufgebauscht,
dañ sie schlieñlich an der eigenen UnglaubwØrdigkeit zugrunde gehen. Der
Ursprung der Geschichte reicht wohl ins siebzehnte Jahrhundert zurØck, sagt
man. Nach verlorengegangenen Vorschriften der Kabbala soll ein Rabbiner da
einen kØnstlichen Menschen - den sogenannten Golem - verfertigt haben, damit
er ihm als Diener helfe die Glocken in der Synagoge lÄuten, und allerhand
grobe Arbeit tue.
Es sei aber doch kein richtiger Mensch daraus geworden und nur ein
dumpfes, halbbewuñtes Vegetieren habe ihn belebt. Wie es heiñt, auch das nur
tagsØber und kraft des Einflusses eines magischen Zettels, der ihm hinter
den ZÄhnen stak und die freien siderischen KrÄfte des Weltalls herabzog.
Und als eines Abends vor dem Nachtgebet der Rabbiner das Siegel aus dem
Munde des Golem zu nehmen versÄumt, da wÄre dieser in Tobsucht verfallen, in
der Dunkelheit durch die Gassen gerast und hÄtte zerschlagen, was ihm in den
Weg gekommen.
Bis der Rabbi sich ihm entgegengeworfen und den Zettel vernichtet habe.
Und da sei das GeschÃpf leblos niedergestØrzt. Nichts blieb von ihm
Øbrig als die zwerghafte Lehmfigur, die heute noch drØben in der
Altneusynagoge gezeigt wird."
"Derselbe Rabbiner soll einmal auch zum Kaiser auf die Burg berufen
worden sein und die Schemen der Toten beschworen und sichtbar gemacht
haben," warf Prokop ein, "moderne Forscher behaupten, er habe sich dazu
einer Laterna magica bedient."
"Jawohl, keine ErklÄrung ist abgeschmackt genug, dañ sie bei den
Heutigen nicht Beifall fÄnde," fuhr Zwakh unbeirrt fort. - "Eine Laterna
magica!! Als ob Kaiser Rudolf, der sein ganzes Leben solchen Dingen
nachging, einen so plumpen Schwindel nicht auf den ersten Blick hÄtte
durchschauen mØssen!
Ich kann freilich nicht wissen, worauf sich die Golemsage zurØckfØhren
lÄñt, dañ aber irgend etwas, was nicht sterben kann, in diesem Stadtviertel
sein Wesen treibt und damit zusammenhÄngt, dessen bin ich sicher. Von
Geschlecht zu Geschlecht haben meine Vorfahren hier gewohnt, und niemand
kann wohl auf mehr erlebte und ererbte Erinnerungen an das periodische
Auftauchen des Golem zurØckblicken als gerade ich!"
Zwakh hatte plÃtzlich aufgehÃrt zu reden, und man fØhlte mit ihm, wie
seine Gedanken in vergangene Zeiten zurØckwanderten.
Wie er, den Kopf aufgestØtzt, dort am Tische sañ und beim Scheine der
Lampe seine roten, jugendlichen BÄckchen fremdartig von dem weiñen Haar
abstachen, verglich ich unwillkØrlich im Geiste seine ZØge mit den
maskenhaften Gesichtern seiner Marionetten, die er mir so oft gezeigt.
Seltsam, wie Ähnlich ihnen der alte Mann doch sah!
Derselbe Ausdruck und derselbe Gesichtsschnitt!
Manche Dinge der Erde kÃnnen nicht loskommen voneinander, fØhlte ich,
und wie ich Zwakhs einfaches Schicksal an mir vorØberziehen lieñ, da schien
es mir mit einemmal gespenstisch und ungeheuerlich, dañ ein Mensch wie er,
obschon er eine bessere Erziehung als seine Vorfahren genossen hatte und
Schauspieler hÄtte werden sollen, plÃtzlich wieder zu dem schÄbigen
Marionettenkasten zurØckkehren konnte, um nun abermals auf die JahrmÄrkte zu
ziehen und dieselben Puppen, die schon seiner VorvÄter kØmmerliches
Erwerbsmittel gewesen, von neuem ihre ungelenken Verbeugungen machen und
schlÄfrigen Erlebnisse vorfØhren zu lassen.
Er vermag es nicht, sich von ihnen zu trennen, begriff ich; sie leben
mit von seinem Leben, und als er fern von ihnen war, da haben sie sich in
Gedanken verwandelt, haben in seinem Hirn gewohnt und ihn rast- und ruhelos
gemacht, bis er wieder heimkehrte. Darum hÄlt er sie jetzt so liebevoll und
kleidet sie stolz in Flitter.
"Zwakh, wollen Sie uns nicht weitererzÄhlen?" forderte Prokop den Alten
auf und sah fragend nach Vrieslander und mir hin, ob auch wir gleichen
Wunsches seien.
"Ich weiñ nicht, wo ich anfangen soll," meinte der Alte zÃgernd, "die
Geschichte mit dem Golem lÄñt sich schwer fassen. So wie Pernath vorhin
sagte: er wisse genau, wie jener Unbekannte ausgesehen habe, und doch kÃnne
er ihn nicht schildern. UngefÄhr alle dreiunddreiñig Jahre wiederholt sich
ein Ereignis in unsern Gassen, das gar nichts besonders Aufregendes an sich
trÄgt und dennoch ein Entsetzen verbreitet, fØr das weder eine ErklÄrung
noch eine Rechtfertigung ausreicht:
Immer wieder begibt es sich nÄmlich, dañ ein vollkommen fremder Mensch,
bartlos, von gelber Gesichtsfarbe und mongolischem Typus, aus der Richtung
der Altschulgasse her, in altmodische, verschossene Kleider gehØllt,
gleichmÄñigen und eigentØmlich stolpernden Ganges, so, als wolle er jeden
Augenblick vornØber fallen, durch die Judenstadt schreitet und plÃtzlich -
unsichtbar wird.
GewÃhnlich biegt er in eine Gasse und ist dann verschwunden.
Ein andermal heiñt es, er habe auf seinem Wege einen Kreis beschrieben
und sei zu dem Punkte zurØckgekehrt, von dem er ausgegangen: einem uralten
Hause in der NÄhe der Synagoge.
Einige Aufgeregte wiederum behaupten, sie hÄtten ihn um eine Ecke auf
sich zukommen sehen. Wiewohl er ihnen aber ganz deutlich
entgegengeschritten, sei er dennoch, genau wie jemand, dessen Gestalt sich
in weiter Ferne verliert, immer kleiner und kleiner geworden und -
schlieñlich ganz verschwunden.
Vor Sechsundsechzig Jahren nun muñ der Eindruck, den er hervorgebracht,
besonders tief gegangen sein, denn ich erinnere mich - ich war noch ein ganz
kleiner Junge -, dañ man das GebÄude in der Altschulgasse damals von oben
bis unten durchsuchte.
Es wurde auch festgestellt, dañ wirklich in diesem Hause ein Zimmer mit
Gitterfenster vorhanden ist, zu dem es keinen Zugang gibt.
Aus allen Fenstern hatte man WÄsche gehÄngt, um von der Gasse aus einen
Augenschein zu gewinnen, und war auf diese Weise der Tatsache auf die Spur
gekommen.
Da es anders nicht zu erreichen gewesen, hatte sich ein Mann an einem
Strick vom Dache herabgelassen, um hineinzusehen. Kaum aber war er in die
NÄhe des Fensters gelangt, da riñ das Seil, und der UnglØckliche
zerschmetterte sich auf dem Pflaster den SchÄdel. Und als spÄter der Versuch
nochmals wiederholt werden sollte, gingen die Ansichten Øber die Lage des
Fensters derart auseinander, dañ man davon abstand.
Ich selber begegnete dem 'Golem' das erste Mal in meinem Leben vor
ungefÄhr dreiunddreiñig Jahren.
Er kam in einem sogenannten Durchhause auf mich zu, und wir rannten
fast aneinander.
Es ist mir heute noch unbegreiflich, was damals in mir vorgegangen sein
muñ. Man trÄgt doch um Gottes willen nicht immerwÄhrend, tagaus tagein die
Erwartung mit sich herum, man werde dem Golem begegnen.
In jenem Augenblick aber, bestimmt - ganz bestimmt, noch ehe ich seiner
ansichtig werden konnte, schrie etwas in mir gellend auf: der Golem! Und im
selben Moment stolperte jemand aus dem Dunkel des Torflures hervor, und
jener Unbekannte ging an mir vorØber. Eine Sekunde spÄter drang eine Flut
bleicher, aufgeregter Gesichter mir entgegen, die mich mit Fragen
bestØrmten, ob ich ihn gesehen hÄtte.
Und als ich antwortete, da fØhlte ich, dañ sich meine Zunge wie aus
einem Krampfe lÃste, von dem ich vorher nichts gespØrt hatte.
Ich war fÃrmlich Øberrascht, dañ ich mich bewegen konnte, und deutlich
kam mir zum Bewuñtsein, dañ ich mich, wenn auch nur den Bruchteil eines
Herzschlags lang - in einer Art Starrkrampf befunden haben muñte.
øber all das habe ich oft und lange nachgedacht, und mich dØnkt, ich
komme der Wahrheit am nÄchsten, wenn ich sage: Immer einmal in der Zeit
eines Menschenalters geht blitzschnell eine geistige Epidemie durch die
Judenstadt, befÄllt die Seelen der Lebenden zu irgendeinem Zweck, der uns
verhØllt bleibt, und lÄñt wie eine Luftspiegelung die Umrisse eines
charakteristischen Wesens erstehen, das vielleicht vorjahrhunderten hier
gelebt hat und nach Form und Gestaltung dØrstet.
Vielleicht ist es mitten unter uns, Stunde fØr Stunde, und wir nehmen
es nicht wahr. HÃren wir doch auch den Ton einer schwirrenden Stimmgabel
nicht, bevor sie das Holz berØhrt und es mitschwingen macht.
Vielleicht ist es nur so etwas wie ein seelisches Kunstwerk, ohne
innewohnendes Bewuñtsein, - ein Kunstwerk, das entsteht, wie ein Kristall
nach stets sich gleichbleibendem Gesetz aus dem Gestaltlosen herauswÄchst.
Wer weiñ das?
Wie in schwØlen Tagen die elektrische Spannung sich bis zur
UnertrÄglichkeit steigert und endlich den Blitz gebiert, kÃnnte es da nicht
sein, dañ auch auf die stetige AnhÄufung jener niemals wechselnden Gedanken,
die hier im Getto die Luft vergiften, eine plÃtzliche, ruckweise Entladung
folgen muñ? - eine seelische Explosion, die unser Traumbewuñtsein ans
Tageslicht peitscht, um - dort den Blitz der Natur - hier ein Gespenst zu
schaffen, das in Mienen, Gang und Gehaben, in allem und jedem das Symbol der
Massenseele unfehlbar offenbaren mØñte, wenn man die geheime Sprache der
Formen nur richtig zu deuten verstØnde?
Und wie mancherlei Erscheinungen das Einschlagen des Blitzes ankØnden,
so verraten auch hier gewisse grauenhafte Vorzeichen das drohende
Hereinbrechen jenes Phantoms ins Reich der Tat. Der abblÄtternde Bewurf
einer alten Mauer nimmt eine Gestalt an, die einem schreitenden Menschen
gleicht; und in Eisblumen am Fenster bilden sich ZØge starrer Gesichter. Der
Sand vom Dache scheint anders zu fallen als sonst und drÄngt dem
argwÃhnischen Beobachter den Verdacht auf, eine unsichtbare Intelligenz, die
sich lichtscheu verborgen hÄlt, werfe ihn herab und Øbe sich in heimlichen
Versuchen, allerlei seltsame Umrisse hervorzubringen. - Ruht das Auge auf
eintÃnigem Geflecht oder den Unebenheiten der Haut, bemÄchtigt sich unser
die unerfreuliche Gabe, Øberall mahnende, bedeutsame Formen zu sehen, die in
unsern TrÄumen ins Riesengroñe auswachsen. Und immer zieht sich durch solche
schemenhaften Versuche der angesammelten Gedankenherden, die WÄlle der
AlltÄglichkeit zu durchnagen, fØr uns wie ein roter Faden die qualvolle
Gewiñheit, dañ unser eigenstes Inneres mit Vorbedacht und gegen unsern
Willen ausgesogen wird, nur damit die Gestalt des Phantoms plastisch werden
kÃnne.
Wie ich nun vorhin Pernath bestÄtigen hÃrte, dañ ihm ein Mensch
begegnet sei, bartlos, mit schiefgestellten Augen, da stand der "Golem" vor
mir, wie ich ihn damals gesehen.
Wie aus dem Boden gewachsen stand er vor mir.
Und eine gewisse dumpfe Furcht, es stehe wieder etwas UnerklÄrliches
nahe bevor, befiel mich einen Augenblick lang; dieselbe Angst, die ich schon
einmal in meinen Kinderjahren verspØrt, als die ersten spukhaften äuñerungen
des Golem ihre Schatten vorauswarfen.
Sechsundsechzig Jahre ist das wohl jetzt her und knØpft sich an einen
Abend, an dem der BrÄutigam meiner Schwester zu Besuch gekommen war, und in
der Familie der Tag der Hochzeit festgesetzt werden sollte.
Es wurde damals Blei gegossen - zum Scherz - und ich stand mit offenem
Munde dabei und begriff nicht, was das zu bedeuten habe, - in meiner wirren,
kindlichen Vorstellung brachte ich es in Zusammenhang mit dem Golem, von dem
ich meinen Groñvater oft hatte erzÄhlen hÃren, und bildete mir ein, jeden
Augenblick mØsse die TØr aufgehen und der Unbekannte eintreten.
Meine Schwester leerte dann den LÃffel mit dem flØssigen Metall in das
Wasserschaff und lachte mich, der ich aufgeregt zusah, lustig an.
Mit welken, zitternden HÄnden holte mein Groñvater den blitzenden
Bleiklumpen heraus und hielt ihn ans Licht. Gleich darauf entstand eine
allgemeine Erregung. Man redete laut durcheinander; ich wollte mich
hinzudrÄngen, aber man wehrte mich ab.
SpÄter, als ich Älter geworden, erzÄhlte mir mein Vater, es wÄre damals
das geschmolzene Metall zu einem kleinen, ganz deutlichen Kopf erstarrt
gewesen, - glatt und rund, wie nach einer Form gegossen, und von
unheimlicher ähnlichkeit mit den ZØgen des "Golem", dañ sich alle entsetzt
hÄtten.
Oft sprach ich mit dem Archivar Schemajah Hillel, der die Requisiten
der Altneusynagoge in Verwahrung hat und auch die gewisse Lehmfigur aus
Kaiser Rudolfs Zeiten, darØber. Er hat sich mit Kabbala befañt und meint,
jener Erdklumpen mit den menschlichen Gliedmañen sei vielleicht nichts
anderes als ein ehemaliges Vorzeichen, ganz so wie in meinem Fall der
bleierne Kopf. Und der Unbekannte, der da umgehe, mØsse das Phantasie- oder
Gedankenbild sein, das jener mittelalterliche Rabbiner zuerst lebendig
gedacht habe, ehe er es mit Materie bekleiden konnte, und das nun in
regelmÄñigen Zeitabschnitten, bei den gleichen astrologischen
Sternstellungen, unter denen es erschaffen worden - wiederkehre, vom Triebe
nach stofflichem Leben gequÄlt.
Auch Hillels verstorbene Frau hatte den "Golem" von Angesicht zu
Angesicht erblickt und ebenso wie ich gefØhlt, dañ man sich im Starrkrampf
befindet, solange das rÄtselhafte Wesen in der NÄhe weilt.
Sie sagte, sie sei felsenfest Øberzeugt gewesen, dañ es damals nur ihre
eigene Seele habe sein kÃnnen, die - aus dem KÃrper getreten - ihr einen
Augenblick gegenØbergestanden und mit den ZØgen eines fremden GeschÃpfes ins
Gesicht gestarrt hÄtte.
Trotz eines furchtbaren Grauens, das sich ihrer damals bemÄchtigt, habe
sie doch keine Sekunde die Gewiñheit verlassen, dañ jener andere nur ein
StØck ihres eignen Innern sein konnte." -
"Es ist unglaublich", murmelte Prokop in Gedanken verloren.
Auch der Maler Vrieslander schien ganz in GrØbeln versunken.
Da klopfte es an die TØre und das alte Weib, das mir des Abends Wasser
bringt und was ich sonst noch nÃtig habe, trat ein, stellte den tÃnernen
Krug auf den Boden und ging stillschweigend wieder hinaus.
Wir alle hatten aufgeblickt und sahen wie erwacht im Zimmer umher, aber
noch lange Zeit sprach niemand ein Wort.
Als sei ein neuer Einfluñ mit der Alten zur TØr hereingeschlØpft, an
den man sich erst gewÃhnen muñte.
"Ja! Die rothaarige Rosina, das ist auch so ein Gesicht, das man nicht
loswerden kann und aus den Winkeln und Ecken immer wieder auftauchen sieht",
sagte plÃtzlich Zwakh ganz unvermittelt. "Dieses erstarrte, grinsende
LÄcheln kenne ich nun schon ein ganzes Menschenleben. Erst die Groñmutter,
dann die Mutter! - Und stets das gleiche Gesicht, kein Zug anders! Derselbe
Name Rosina; - es ist immer eine die Auferstehung der andern."
"Ist Rosina nicht die Tochter des TrÃdlers Aaron Wassertrum?" fragte
ich.
"Man spricht so", meinte Zwakh, - - "Aaron Wassertrum aber hat manchen
Sohn und manche Tochter, von denen man nicht weiñ. Auch bei Rosinas Mutter
wuñte man nicht, wer ihr Vater gewesen, - auch nicht, was aus ihr geworden
ist. - Mit fØnfzehn Jahren hatte sie ein Kind geboren und war seitdem nicht
mehr aufgetaucht. Ihr Verschwinden hing mit einem Mord zusammen, soweit ich
mich entsinnen kann, der ihretwegen in diesem Hause begangen wurde.
Wie jetzt ihre Tochter, spukte damals sie den halbwØchsigen Jungen im
Kopfe. Einer von ihnen lebt noch, - ich sehe ihn Ãfter, - doch sein Name ist
mir entfallen. Die andern sind bald gestorben, und ich meine, sie hat sie
alle frØhzeitig under die Erde gebracht. Ich erinnere mich aus jener Zeit
Øberhaupt nur noch an kurze Episoden, die wie verblichene Bilder durch mein
GedÄchtnis treiben. So hat es damals einen halbblÃdsinnigen Menschen
gegeben, der nachts von Schenke zu Schenke zog und den GÄsten gegen ein paar
Kreuzer Silhouetten aus schwarzem Papier schnitt. Und wenn man ihn betrunken
machte, geriet er in eine unsÄgliche Traurigkeit, und unter TrÄnen und
Schluchzen schnitzelte er, ohne aufzuhÃren, immer das gleiche scharfe
MÄdchenprofil, bis sein ganzer Papiervorrat verbraucht war.
Aus ZusammenhÄngen zu schlieñen, die ich lÄngst vergessen, hatte er -
fast ein Kind noch - eine gewisse Rosina, wohl die Groñmutter der heutigen,
so heftig geliebt, dañ er den Verstand darØber verlor.
Wenn ich die Jahre zurØckzÄhle, kann es keine andere als die Groñmutter
der jetzigen Rosina gewesen sein." - - -
Zwakh schwieg und lehnte sich zurØck.
Das Schicksal in diesem Haus irrt im Kreise umher und kehrt immer
wieder zum selben Punkt zurØck, fuhr es mir durch den Sinn, und ein
hÄñliches Bild, das ich einmal mit angesehen - eine Katze mit verletzter
GehirnhÄlfte im Kreise herumtaumelnd - trat vor mein Auge.
"Jetzt kommt der Kopf", hÃrte ich plÃtzlich den Maler Vrieslander mit
heller Stimme sagen.
Und er nahm einen runden Holzklotz aus der Tasche und begann an ihm zu
schnitzen.
Eine schwere MØdigkeit legte sich mir Øber die Augen, und ich rØckte
meinen Lehnstuhl aus dem Lichtschein in den Hintergrund.
Das Wasser fØr den Punsch brodelte im Kessel, und Josua Prokop fØllte
wiederum die GlÄser. Leise, ganz leise klangen die KlÄnge der Tanzmusik
durch das geschlossene Fenster; - manchmal verstummten sie vollends, dann
wiederum wachten sie ein wenig auf, wie sie der Wind unterwegs verlor oder
zu uns von der Gasse emportrug.
Ob ich denn nicht anstoñen wolle, fragte mich nach einer Weile der
Musiker.
Ich aber gab keine Antwort, - so vollkommen war mir der Wille, mich zu
bewegen, abhanden gekommen, dañ ich gar nicht auf den Gedanken, den Mund zu
Ãffnen, verfiel.
Ich dachte ich schliefe, so steinern war die innere Ruhe, die sich
meiner bemÄchtigt hatte. Und ich muñte hinØber auf Vrieslanders funkelndes
Messer blinzeln, das ruhelos aus dem Holz kleine SpÄne biñ, - um die
Gewiñheit zu erlangen, dañ ich wach sei.
In weiter Ferne brummte Zwakhs Stimme und erzÄhlte wieder allerlei
wunderliche Geschichten Øber Marionetten und krause MÄrchen, die er fØr
seine Puppenspiele erdacht.
Auch von Dr. Savioli war die Rede und von der vornehmen Dame, der
Gattin eines Adeligen, die in das versteckte Atelier heimlich zu Savioli zu
Besuch komme.
Und wiederum sah ich im Geiste Aaron Wassertrums hÃhnische,
triumphierende Miene. -
Ob ich Zwakh nicht mitteilen sollte, was sich damals ereignet hatte,
Øberlegte ich, - dann hielt ich es nicht der MØhe fØr wert und fØr
belanglos. Auch wuñte ich, dañ mein Wille versagen wØrde, wollte ich jetzt
den Versuch machen zu sprechen.
PlÃtzlich sahen die drei am Tisch aufmerksam zu mir herØber, und Prokop
sagte ganz laut: "Er ist eingeschlafen", - so laut, dañ es fast klang, als
ob es eine Frage sein sollte.
Sie redeten mit gedÄmpfter Stimme weiter, und ich erkannte, dañ sie von
mir sprachen.
Vrieslanders Schnitzmesser tanzte hin und her und fing das Licht auf,
das von der Lampe niederfloñ, und der spiegelnde Schein brannte mir in den
Augen.
Es fiel ein Wort wie: "irr sein", und ich horchte auf die Rede, die in
der Runde ging.
"Gebiete, wie das vom 'Golem' sollte man vor Pernath nie berØhren,"
sagte Josua Prokop vorwurfsvoll, "als er vorhin von dem Buche Ibbur
erzÄhlte, schwiegen wir still und fragten nicht weiter. Ich mÃchte wetten,
er hat alles nur getrÄumt."
Zwakh nickte: "Sie haben ganz recht. Es ist, wie wenn man mit offenem
Lichte eine verstaubte Kammer betreten wollte, in der morsche TØcher Decke
und WÄnde bespannen und der dØrre Zunder der Vergangenheit fuñhoch den Boden
bedeckt; ein flØchtiges BerØhren nur und schon schlÄgt das Feuer aus allen
Ecken."
"War Pernath lange im Irrenhaus? Schade um ihn, er kann doch erst
vierzig sein", sagte Vrieslander.
"Ich weiñ es nicht, ich habe auch keine Vorstellung, woher er stammen
mag und was frØher sein Beruf gewesen ist. Aussehen tut er ja wie ein
altfranzÃsischer Edelmann mit seiner schlanken Gestalt und dem Spitzbart.
Vor vielen vielen Jahren hat mich ein befreundeter alter Arzt gebeten, ich
mÃchte mich seiner ein wenig annehmen und ihm eine kleine Wohnung hier in
diesen Gassen, wo sich niemand um ihn kØmmern und mit Fragen nach frØheren
Zeiten beunruhigen wØrde, aussuchen." - Wieder sah Zwakh bewegt zu mir
herØber. - "Seit jener Zeit lebt er hier, bessert AntiquitÄten aus und
schneidet Gemmen und hat sich damit einen kleinen Wohlstand gegrØndet. Es
ist ein GlØck fØr ihn, dañ er alles, was mit seinem Wahnsinn zusammenhÄngt,
vergessen zu haben scheint. Fragen Sie ihn beileibe nur niemals nach Dingen,
die die Vergangenheit in seiner Erinnerung wachrufen kÃnnten, - wie oft hat
mir das der alte Arzt ans Herz gelegt! Wissen Sie, Zwakh, sagte er immer,
wir haben so eine gewisse Methode; wir haben seine Krankheit mit vieler MØhe
eingemauert, mÃchte ich's nennen, - so wie man eine UnglØcksstÄtte
einfriedet, weil sich an sie eine traurige Erinnerung knØpft." - - -
Die Rede des Marionettenspielers war auf mich zugekommen wie ein
SchlÄchter auf ein wehrloses Tier und preñte mir mit rohen, grausamen HÄnden
das Herz zusammen.
Von jeher hatte eine dumpfe Qual an mir genagt, - ein Ahnen, als wÄre
mir etwas genommen worden und als hÄtte ich in meinem Leben eine lange
Strecke Wegs an einem Abgrunde hin durchschritten wie ein Schlafwandler. Und
nie war es mir gelungen, die Ursache zu ergrØnden.
Jetzt lag des RÄtsels LÃsung offen vor mir und brannte mich
unertrÄglich wie eine bloñgelegte Wunde.
Mein krankhafter Widerwillen, der Erinnerung an verflossene Ereignisse
nachzuhÄngen, - dann der seltsame, von Zeit zu Zeit immer wiederkehrende
Traum, ich sei in ein Haus mit einer Flucht mir unzugÄnglicher GemÄcher
gesperrt, - das beÄngstigende Versagen meines GedÄchtnisses in Dingen, die
meine Jugendzeit betrafen, - alles das fand mit einem Male seine furchtbare
ErklÄrung: ich war wahnsinnig gewesen und man hatte Hypnose angewandt, hatte
das - "Zimmer" verschlossen, das die Verbindung zu jenen GemÄchern meines
Gehirns bildete, und mich zum Heimatlosen inmitten des mich umgebenden
Lebens gemacht.
Und keine Aussicht, die verlorene Erinnerung je wieder zu gewinnen!
Die Triebfedern meines Denkens und Handelns liegen in einem andern,
vergessenen Dasein verborgen, begriff ich, - nie wØrde ich sie erkennen
kÃnnen: eine verschnittene Pflanze bin ich, ein Reis, das aus einer fremden
Wurzel sproñt. GelÄnge es mir auch, den Eingang in jenes verschlossene
"Zimmer" zu erzwingen, mØñte ich nicht abermals den Gespenstern, die man
darein gebannt, in die HÄnde fallen?!
Die Geschichte von dem Golem, die Zwakh vor einer Stunde erzÄhlte, zog
mir durch den Sinn, und plÃtzlich erkannte ich einen riesengroñen,
geheimnisvollen Zusammenhang zwischen dem sagenhaften Gemach ohne Zugang, in
dem jener Unbekannte wohnen sollte, und meinem bedeutungsvollen Traum.
Ja! auch in meinem Falle "wØrde der Strick reiñen", wollte ich
versuchen, in das vergitterte Fenster meines Innern zu blicken.
Der seltsame Zusammenhang wurde mir immer deutlicher und nahm etwas
unbeschreiblich Erschreckendes fØr mich an.
Ich fØhlte: es sind da Dinge - unfañbare - zusammengeschmiedet und
laufen wie blinde Pferde, die nicht wissen wohin der Weg fØhrt,
nebeneinander her.
Auch im Getto: ein Zimmer, ein Raum, dessen Eingang niemand finden
kann, - ein schattenhaftes Wesen, das darin wohnt und nur zuweilen durch die
Gassen tappt, um Grauen und Entsetzen unter die Menschen zu tragen! - - -
Immer noch schnitzte Vrieslander an dem Kopfe, und das Holz knirschte
unter der Klinge des Messers.
Es tat mir fast weh, wie ich es hÃrte, und ich sah hin, ob es denn
nicht bald zu Ende sei.
Wie der Kopf sich in des Malers Hand hin und her wandte, war es, als
habe er Bewuñtsein und spÄhe von Winkel zu Winkel. Dann ruhten seine Augen
lange auf mir, befriedigt, dañ sie mich endlich gefunden.
Auch ich vermochte meine Blicke nicht mehr abzuwenden und starrte
unverwandt auf das hÃlzerne Antlitz.
Eine Weile schien das Messer des Malers zÃgernd etwas zu suchen, dann
ritzte es entschlossen eine Linie ein, und plÃtzlich gewannen die ZØge des
Holzklotzes schreckhaftes Leben.
Ich erkannte das gelbe Gesicht des Fremden, der mir damals das Buch
gebracht.
Dann konnte ich nichts mehr unterscheiden, der Anblick hatte nur eine
Sekunde gedauert, und ich spØrte, dañ mein Herz zu schlagen aufhÃrte und
Ängstlich flatterte.
Dennoch blieb ich mir - wie damals - des Gesichtes bewuñt.
Ich war es selber geworden und lag auf Vrieslanders Schoñ und spÄhte
umher.
Meine Augen wanderten im Zimmer umher, und eine fremde Hand bewegte
meinen SchÄdel.
Dann sah ich mit einem Male Zwakhs aufgeregte Miene und hÃrte seine
Worte: Um Gottes willen, das ist ja der Golem!
Und ein kurzes Ringen entstand, und man wollte Vrieslander mit Gewalt
das Schnitzwerk entreiñen, doch der wehrte sich und rief lachend:
"Was wollt ihr, es ist doch ganz und gar miñlungen." Und er wand sich
los, Ãffnete das Fenster und warf den Kopf auf die Gasse hinunter.
Da schwand mein Bewuñtsein, und ich tauchte in eine tiefe Finsternis,
die von schimmernden GoldfÄden durchzogen war, und als ich, wie es mir
schien, nach einer langen, langen Zeit erwachte, da erst hÃrte ich das Holz
klappernd auf das Pflaster fallen. - - -
"Sie haben so fest geschlafen, dañ Sie nicht merkten, wie wir Sie
schØttelten," - sagte Josua Prokop zu mir, "der Punsch ist aus, und Sie
haben alles versÄumt."
Der heiñe Schmerz Øber das, was ich vorhin mitangehÃrt, Øbermannte mich
wieder, und ich wollte aufschreien, dañ ich nicht getrÄumt habe, als ich
ihnen von dem Buche Ibbur erzÄhlte - und es aus der Kassette nehmen und
ihnen zeigen kÃnne.
Aber diese Gedanken kamen nicht zu Wort und konnten die Stimmung
allgemeinen Aufbruches, die meine GÄste ergriffen hatte, nicht durchdringen.
Zwakh hÄngte mir mit Gewalt den Mantel und und rief:
"Kommen Sie nur mit zum Loisitschek, Meister Pernath, es wird Ihre
Lebensgeister erfrischen."
Nacht
Willenlos hatte ich mich von Zwakh die Treppe hinunterfØhren lassen.
Ich spØrte den Geruch des Nebels, der von der Strañe ins Haus drang,
deutlicher und deutlicher werden. Josua Prokop und Vrieslander waren einige
Schritte vorausgegangen, und man hÃrte, wie sie drauñen vor dem Torweg
mitsammen sprachen.
"Er muñ rein in das Kanalgitter gefallen sein. Es ist doch zum
Teufelholen."
Wir traten hinaus auf die Gasse, und ich sah, wie Prokop sich bØckte
und die Marionette suchte.
"Freut mich, dañ du den dummen Kopf nicht finden kannst", brummte
Vrieslander. Er hatte sich an die Mauer gestellt und sein Gesicht leuchtete
grell auf und erlosch wieder in kurzen Intervallen - wie er das Feuer eines
Streichholzes zischend in seine kurze Pfeife sog.
Prokop machte eine heftig abwehrende Bewegung mit dem Arm und beugte
sich noch tiefer hinab. Er kniete beinahe auf dem Pflaster:
"Still doch! HÃrt ihr denn nichts?"
Wir traten an ihn heran. Er deutete stumm auf das Kanalgitter und legte
horchend die Hand ans Ohr. Eine Weile standen wir unbeweglich und lauschten
in den Schacht hinab.
Nichts.
"Was war's denn?" flØsterte endlich der alte Marionettenspieler; doch
sofort packte ihn Prokop heftig beim Handgelenk.
Einen Augenblick - kaum einen Herzschlag lang - hatte es mir
geschienen, als klopfte da unten eine Hand gegen eine Eisenplatte - fast
unhÃrbar. Wie ich eine Sekunde spÄter darØber nachdachte, war alles vorbei;
nur in meiner Brust hallte es wie ein Erinnerungsecho weiter und lÃste sich
langsam in ein unbestimmtes GefØhl des Grauens auf.
Schritte, die die Gasse heraufkamen, verscheuchten den Eindruck.
"Gehen wir; was stehen wir da herum!" mahnte Vrieslander.
Wir schritten die HÄuserreihe entlang.
Prokop folgte nur widerwillig.
"Meinen Hals mÃcht ich wetten, da unten hat jemand geschrien in
Todesangst."
Niemand von uns antwortete ihm, aber ich fØhlte, dañ etwas wie leise
dÄmmernde Angst uns die Zunge in Fesseln hielt.
Bald darauf standen wir vor einem rotverhÄngten Schenkenfenster.
"SALON LOISITSCHEK".
"Heinte groñes Konzehr"
stand auf einem Pappendeckel geschrieben, dessen Rand mit verblichenen
Photographien von Frauenzimmern bedeckt war.
Ehe noch Zwakh die Hand auf die Klinke legen konnte, Ãffnete sich die
EingangstØr nach innen, und ein vierschrÃtiger Kerl mit gewichstem schwarzem
Haar, ohne Kragen - eine grØnseidene Krawatte um den bloñen Hals geschlungen
und die Frackweste mit einem Klumpen aus SchweinszÄhnen geschmØckt - empfing
uns mit BØcklingen.
"JÄ, jÄ, das sin mir GÄstÄh. - - - Pane Schaffranek, rasch einen
Tusch!" setzte er, Øber die Schulter in das von Menschen ØberfØllte Lokal
gewendet, hastig seinem Willkommensgruñ hinzu.
Ein klimperndes GerÄusch, wie wenn eine Ratte Øber Klaviersaiten liefe,
war die Antwort.
"JÄ, jÄ, das sin mir GÄstÄh, das sin mir GÄstÄh. Da schaut man",
murmelte der VierschrÃtige immerwÄhrend eifrig vor sich hin, wÄhrend er uns
aus den MÄnteln half.
"Ja, ja, heinte ist der ganze verehrliche Hochadel des Landes bei mir
versammelt", beantwortete er triumphierend Vrieslanders erstaunte Miene, als
im Hintergrund auf einer Art Estrade, die durch GelÄnder und eine
zweistufige Treppe vom vorderen Teil der Schenke getrennt war, ein paar
vornehme junge Herren in Abendtoilette sichtbar wurden.
Schwaden beiñenden Tabakrauches lagerten Øber den Tischen, hinter denen
die langen HolzbÄnke an den WÄnden vollbesetzt von zerlumpten Gestalten
waren: Dirnen von den Schanzen, ungekÄmmt, schmutzig, barfuñ, die festen
BrØste kaum verhØllt von miñfarbigen UmhÄngetØchern, ZuhÄlter daneben mit
blauen MilitÄrmØtzen und Zigaretten hinter dem Ohr, ViehhÄndler mit haarigen
FÄusten und schwerfÄlligen Fingern, die bei jeder Bewegung eine stumme
Sprache der Niedertracht redeten, vazierende Kellner mit frechen Augen und
blatternarbige Kommis mit karierten Hosen.
"Ich stell' ich Ihnen spanische Plente umadum, damit Sie schÃn
ungestÃrt sein", krÄchzte die feiste Stimme des VierschrÃtigen, und eine
Rollwand, beklebt mit kleinen, tanzenden Chinesen, schob sich langsam vor
den Ecktisch, an den wir uns gesetzt hatten.
Schnarrende KlÄnge einer Harfe machten das Stimmengewirr im Zimmer
verlÃschen.
Eine Sekunde eine rhythmische Pause.
Totenstille, als hielte alles den Atem an.
Mit erschreckender Deutlichkeit hÃrte man plÃtzlich wie die eisernen
GasstÄbe fauchend die flachen herzfÃrmigen Flammen aus ihren MØndern in die
Luft bliesen - - dann fiel die Musik Øber das GerÄusch her und verschlang
es.
Als wÄren sie soeben erst entstanden, tauchten da zwei seltsame
Gestalten aus dem Tabakqualm vor meinem Blick empor.
Mit langem, wallendem, weiñen Prophetenbart, ein schwarzseidenes
KÄppchen - wie es die alten jØdischen FamilienvÄter tragen - auf dem
Kahlkopf, die blinden Augen milchblÄulich und glÄsern - starr zur Decke
gerichtet - sañ dort ein Greis, bewegte lautlos die Lippen und fuhr mit
dØrren Fingern wie mit Geierkrallen in die Saiten einer Harfe. Neben ihm in
speckglÄnzendem, schwarzen Taffetkleid, Jettschmuck und Jettkreuz an Hals
und Armen - ein Sinnbild erheuchelter BØrgermoral - ein schwammiges
Weibsbild, die Ziehharmonika auf dem Schoñ.
Ein wildes Gestolper von KlÄngen drÄngte sich aus den Instrumenten,
dann sank die Melodie ermattet zur bloñen Begleitung herab.
Der Greis hatte ein paarmal in die Luft gebissen und riñ den Mund weit
auf, dañ man die schwarzen Zahnstumpen sehen konnte. Langsam aus der Brust
herauf rang sich ihm, von seltsamen hebrÄischen RÃchellauten begleitet, ein
wilder Bañ:
"Roo - n - te, blau - we Stern - -"
"Rititit" (schrillte das Weibsbild dazwischen und schnappte sofort die
keifigen Lippen zusammen, als habe sie schon zuviel gesagt)
"Roonte blaue Steern
HÃrndlach ess i' ach geern";
"Rititit"
"Rotboart, Grienboart
allerlaj Stern" - -
"Rititit, rititit."
Die Paare traten zum Tanze an.
"Es ist das Lied vom 'chomezigen Borchu'", erklÄrte uns lÄchelnd der
Marionettenspieler und schlug leise mit dem ZinnlÃffel, der sonderbarerweise
mit einer Kette am Tisch befestigt war, den Takt. "Vor wohl hundert Jahren
oder mehr noch hatten zwei BÄckergesellen, Rotbart und GrØnbart, am Abend
des 'Schabbes Hagodel' das Brot - Sterne und HÃrnchen - vergiftet, um ein
ausgiebiges Sterben in der Judenstadt hervorzurufen; aber der 'Meschores' -
der Gemeindediener - war infolge gÃttlicher Erleuchtung noch rechtzeitig
draufgekommen und konnte die beiden Verbrecher der Stadtpolizei Øberliefern.
Zur Erinnerung an die wundersame Errettung aus Todesgefahr dichteten damals
die 'Landonim' und 'Bocherlech' jenes seltsame Lied, das wir hier jetzt als
Bordellquadrille hÃren."
"Rititit - Rititit"
"Roote blaue Steern - - - -" immer hohler und fanatischer erscholl das
Gebell des Greises.
PlÃtzlich wurde die Melodie konfuser und ging allmÄhlich in den
Rhythmus des bÃhmischen "Schlapak" - eines schleifenden Schiebetanzes -
Øber, bei dem die Paare die schwitzigen Wangen innig aneinander preñten.
"So recht. Bravo. äh da! fang, hep, hep!" rief von der Estrade ein
schlanker, junger Kavalier im Frack, das Monokel im Auge, dem Harfenisten
zu, griff in die Westentasche und warf ein SilberstØck in der Richtung. Es
erreichte sein Ziel nicht: ich sah noch, wie es Øber das TanzgewØhl
hinblitzte; da war es plÃtzlich verschwunden. Ein Strolch - sein Gesicht kam
mir so bekannt vor; ich glaube, es muñ derselbe gewesen sein, der neulich
bei dem Regenguñ neben Charousek gestanden - hatte seine Hand hinter dem
Busentuch seiner TÄnzerin, wo er sie bisher hartnÄckig ruhen gehabt,
hervorgezogen - ein Griff in die Luft mit affenhafter Geschwindigkeit, ohne
auch nur einen Takt der Musik auszulassen, und die MØnze war geschnappt.
Nicht ein Muskel zuckte im Gesicht des Burschen auf, nur zwei, drei Paare in
der NÄhe grinsten leise.
"Wahrscheinlich einer vom 'Bataillon', nach der Geschicklichkeit zu
schlieñen", sagte Zwakh lachend.
"Meister Pernath hat sicherlich noch nie etwas vom 'Bataillon' gehÃrt",
fiel Vrieslander auffallend rasch ein und zwinkerte heimlich dem
Marionettenspieler zu, dañ ich es nicht sehen sollte. - Ich verstand gar
wohl: es war wie vorhin, oben auf meinem Zimmer. Sie hielten mich fØr krank.
Wollten mich aufheitern. Und Zwakh sollte etwas erzÄhlen. Irgend etwas.
Wie mich der gute Alte so mitleidig ansah, stieg es mir heiñ vom Herzen
in die Augen. Wenn er wØñte, wie weh mir sein Mitleid tat!
Ich ØberhÃrte die ersten Worte, mit denen der Marionettenspieler seine
Worte einleitete, - ich weiñ nur, mir war, als verblute ich langsam. Mir
wurde immer kÄlter und starrer, wie vorhin, als ich als hÃlzernes Gesicht
auf Vrieslanders Schoñ gelegen hatte. Dann war ich plÃtzlich mitten drin in
der ErzÄhlung, die mich fremdartig umfing, - einhØllte, wie ein lebloses
StØck aus einem Lesebuch.
Zwakh begann:
"Die ErzÄhlung vom Rechtsgelehrten Dr. Hulbert und seinem